Das hat zwei Gründe: Das Freizeitverhalten in der Schweiz hat sich stark verändert. Der in der Coronapandemie entstandene Veloboom macht auch vor dem öffentlichen Verkehr nicht halt. Die Zahl der transportierten Velos und Gepäckstücke steigt. Dank einem flexiblen Abteil können die unterschiedlichen Bedürfnisse besser abgedeckt werden. Sind viele Pendler unterwegs, bietet ein Zug mehr Sitzplätze – im Freizeitverkehr ist mehr Raum für sperrige Güter gefragt.
Doch die Bedürfnisse ändern sich nicht nur nach Tag, Uhrzeit oder Wetterlage, sondern über die gesamte Nutzungsdauer eines Fahrzeugs. Mehrere Jahre bevor ein Zug auf der Schiene rollt, müssen die Anforderungen an die Innenausstattung definiert werden. Bis zum ersten Mal grössere Anpassungen vorgenommen werden können, vergehen wegen der hohen Umbaukosten und den zahlreichen Sicherheitsvorgaben so rasch 20 Jahre.
Hier setzt das Pilotprojekt ebenfalls an: Statt Fahrzeuge komplett umbauen zu müssen, sollen bestehende Vis-à-vis-Sitzabteile durch Module mit neuen Angeboten für die Reisenden ausgetauscht werden können. Die SOB testet schwenkbare Sitzkombinationen mit Arbeitstischen und eine neue Sitzgelegenheit – quasi eine Fensterbank – für Pendler. Das ermöglicht innovative Lösungen während der gesamten Lebensdauer der Züge und abgestimmt auf deren Einsatzort und -zeit.
Tatsächlich steht manch ein Fahrgast rätselnd vor den neuen Abteilen, wie die Kundenrückmeldungen zeigen. Wie soll man aus den Sitzen nun einen Abstellplatz machen? Im Pilotprojekt ist das nicht Aufgabe der Fahrgäste, sondern von Zugpersonal und anderen Bahnmitarbeitenden. Denn das flexible Abteil soll nicht zur Konfliktzone werden, wie das bei den altbekannten Klappsitzen bei hohem Fahrgast- oder Gepäckaufkommen der Fall ist. Gerade für kürzere Strecken sind die Klappsitze beliebt – sitzt jemand dort, blockiert diese Person aber den Platz für ein Fahrrad.
Durch das flexible Abteil gibt es ein klares Entweder-oder. Das Abteil wird aufgrund des erwarteten Fahrgastaufkommens vorkonfiguriert oder vom Zugpersonal während der Fahrt oder an Bahnhöfen je nach Betriebssituation angepasst. Die Klappsitzzonen bleiben bestehen, sie bewähren sich in Nebenverkehrszeiten mit viel Platz sowohl für Fahrgäste als auch für Gepäck.
Die Piktogramme am Boden zeigen es an: Rechts stehen Plätze für Velos zur Verfügung, links für Koffer oder Kinderwagen. Alles nur Zufall? «Nein», betont Ingenieur Christian Keller von Erfindergeist, der das Abteil mit seinem Team für die SOB entwickelt hat. «Fahrräder haben in der Regel auf der rechten Seite ihre Kette und werden deshalb auf der linken Seite geschoben.» Die Fahrgäste mit Velos haben damit beim Einsteigen leichtes Spiel und können ihr Gefährt rasch und ohne Wendemanöver platzieren. Das spart wertvolle Zeit beim Einsteigen.
Anders als bei der Gepäck- und Kinderwagenzone stehen deshalb an den Veloplätzen auch Befestigungsgurte zur Verfügung. Dank den bereits eingegangenen Kundenrückmeldungen wurden diese noch während der Pilotphase optisch besser markiert.
Ein Fahrgastsitz kann – wie jedes heimische Sofa auch – verschieden hart gepolstert werden. Das geschieht über unterschiedliche Festigkeiten oder Dicke des Schaumstoffs. Je nach Ausstattung werden auch Federungen oder Lederüberzüge verwendet. Im Pilotprojekt steckt im neu entwickelten Raumsparsitz aber nicht nur die Polsterung, sondern viel Mechanik.
Die Sitzfläche muss klappbar sein und dabei möglichst platzsparend bleiben. Denn die Sitze schieben sich während des Einklappens zusammen. Nur so können beide Aufgaben der Sitze erfüllt werden: Für den sitzenden Reisenden soll der gewohnte Komfort und Freiraum – insbesondere im Schulterbereich – zur Verfügung stehen und gleichzeitig die Aussicht aus dem Fenster über die ganze Breite bestehen bleiben. Im eingeklappten Zustand vor dem Fenster müssen die Sitze hingegen schmaler sein, sonst würden sich die Sitzteile beim Zuschieben verkeilen. Das erklärt auch, warum im Abteil heute Armlehnen fehlen. Die Lehnen liessen sich vor dem Zusammenklappen nicht wegzaubern.
Aber nicht zu vergessen: Es handelt sich um ein Pilotprojekt. Der entwickelte Testsitz ist deshalb besonders robust konzipiert und technisch überdimensioniert. In einem weiteren Entwicklungsschritt könnte die Mechanik weiter verfeinert und so auch ein weicheres Sitzpolster oder auch Armlehnen integriert werden.
Mehr als ein Jahr lang hat die SOB gemeinsam mit den Industriedesignern von Erfindergeist am neuen Abteil getüftelt. Die Grundlage der Konzepte bilden Rückmeldungen von Reisenden und Zugpersonal. Das Projektteam selbst war mit allen möglichen Gepäckstücken auf diversen Strecken unterwegs. Dabei war das Team auch bei anderen Bahnunternehmen zu Gast und hat sich mit Veloverbänden ausgetauscht. Das hat die Entwickler überzeugt, die passende Lösung gefunden zu haben. Aber: «Mit jedem Gespräch haben wir wieder einen Hinweis für eine Verbesserung erhalten», sagt Christian Keller von Erfindergeist. Das zeigt sich nun auch im laufenden Betrieb: Aufgetaucht sind Wünsche nach höhenverstellbaren Kopfstützen oder Steckdosen.
Auch beim zweiten Testabteil gibt es Verbesserungspotenzial: «Einige Kundinnen und Kunden melden zurück, dass sie die neue Sitzbank lieber direkt beim Eingang hätten – weil der Platz damit etwa für Reisende mit einem Rollator oder Trottinett besser erreichbar wäre», sagt Projektleiterin Sandra Dietsche. Solche Rückmeldungen seien besonders wertvoll, weil sich Vorstellung und Anwendung in der Realität dann doch unterscheiden. Die vielen positiven Rückmeldungen und das Lob für den Innovationsgeist freuen das Projektteam ganz besonders. Die vielen Stunden Tüftelei haben sich schon jetzt gelohnt. «Wir entwickeln das Abteil nicht für uns, sondern für und mit unseren Kundinnen und Kunden.»
Der «Flirt 062», so wird das Fahrzeug bei der SOB genannt, ist auf allen S-Bahn-Linien in der Ost- und Zentralschweiz der Südostbahn unterwegs. Zusätzlich verkehrt der Pilotzug als Verstärkungseinheit beim Voralpen-Express zwischen St.Gallen und Rapperswil sowie beim Treno Gottardo zwischen Arth-Goldau und Basel.
Punktuell sind Einsätze an Events mit vielen Velofahrern geplant. Am 25./26. Mai 2024 kann der Pilotzug an der Cycle Week in Zürich besichtigt werden (kostenlose Tickets hier). Im September kommt das Fahrzeug am Klausen Monument oder dem Bike Side Festival in Einsiedeln zum Einsatz. Diese Fahrten werden vorab auf den SOB-Social-Media-Kanälen bekannt gegeben. Auf Facebook, Instagram oder LinkedIn erteilen wir unter der Woche tagesaktuell auf Anfrage Auskunft, wo das Fahrzeug gerade unterwegs ist.
Sie sind noch vielen Reisenden von früher in Erinnerung: Die Gepäckwagen. Hier war kein Konfigurieren nötig, Gepäck und Velos konnte bis unters Dach gestapelt werden. Und tatsächlich: Ein Gepäckwagen würde gewisse Kapazitätsthemen beim Transport von Velos und Gepäck lösen – gerade in extremen Spitzenzeiten. Doch im eng getakteten Schweizer Bahnsystem bleiben heute kaum Lücken, um sie aufwendig zu rangieren oder während der kurzen Haltezeiten rasch ein- und auszuladen. Immer genügend Gepäckwagen bereitzuhalten ist zudem sehr teuer und bei der Einsatzplanung zu starr im täglichen Betrieb. Denn die Fahrgastfrequenzen ändern sich je nach Wetter und Tag auch spontan. Die Südostbahn ist überzeugt, dass die Züge deshalb im bestehenden Innenraum flexibler werden müssen.
Start Pilotbetrieb im Dezember 2023: Flexible Abteile für Velo und Gepäck: SOB-Pilotbetrieb startet
English version: Space for commuter and leisure travel: Schweizerische Südostbahn AG wants to make train interiors more flexible
Projektbericht Mai 2023: Platz für Berufsverkehr und Freizeitreisen: Wie die Südostbahn Züge flexibler machen will
Text: Conradin Knabenhans
Bilder: Erfindergeist
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