Platz für Berufsverkehr und Freizeitreisen: Wie die Südostbahn Züge flexibler machen will

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Der Raum ist da, aber der Platz fehlt: Unter der Woche sind in Zügen viele Sitzplätze gefragt, am Wochenende Platz für Velos und Gepäck. Ein fast unlösbares Dilemma für Bahnunternehmen. Die Südostbahn tüftelt an der Umsetzung einer Vision, die sich nicht nur auf Platz für Fahrräder beschränkt.

Das in diesem Text beschriebene Projekt ist im Dezember 2023 in den Pilotbetrieb gestartet. Lesen Sie mehr zum Pilotbetrieb und dem aktuellen Projektstand.

 

Es ist ein Anblick, der selbst erfahrene Kundenbegleiterinnen und Kundenbegleiter überrascht: Die Veloplätze im SOB-Traverso sind bereits voll belegt, also hat ein Sportler sein grosses Mountainbike kurzerhand hochkant zwischen zwei Sitze gestellt. So kreativ die Lösung scheint, sie ist keinesfalls zur Nachahmung gedacht: Das schwere Bike ist nicht gesichert, die Räder hinterlassen Spuren an den Sitzen und vier Sitzplätze sind durch ein einziges Velo belegt. Wäre dieses Abteil ein offizieller Velostandplatz, fänden auf demselben Raum drei bis vier Fahrräder einen Platz.

Das Taschenmesser als Vorbild

Hier setzt das Pilotprojekt der Südostbahn an, das vom Bundesamt für Verkehr derzeit im Bereich des regionalen Personenverkehrs finanziell gefördert wird. «Die Bedürfnisse von Fahrgästen ändern sich über den Tag, über die Woche oder über eine Saison», sagt die Bündner SOB-Projektleiterin Jacqueline Keller. Züge haben aber eine unveränderbare Innenausstattung, bieten zu jeder Tages- und Nachtzeit, bei jedem Wetter stets das gleiche Angebot an Sitz- und Stellplätzen. «Wir müssen den Zug als Transportgefäss völlig neu denken», betont Christian Keller. Der Industriedesigner und Ingenieur berät die SOB und entwickelt mit seiner Firma «erfindergeist» im Förderprojekt Lösungen für diese Problematik. Der 39-jährige St. Galler denkt dabei an die klassischen Schweizer Taschenmesser: «Diese nutzen den ‹Raum› optimal und bieten eine Vielzahl von Funktionen, die man genau dann ausklappen kann, wenn man sie benötigt.» Die heutige Situation in Zügen sei eine andere, hier passten sich die Funktionen eben gerade nicht an: «Der Raum ist da, aber der Platz fehlt», bemerkt der Ingenieur philosophisch.

Kundenerwartungen verändern sich

Das Problem der starren Raumgestaltung beginnt längst, bevor der Sportler sein Mountainbike in den Zug schiebt. Werden neue Züge beschafft, gehen die Planer von den aktuellen Bedürfnissen aus – bis die Züge dann tatsächlich auf der Schiene rollen, vergehen aber gut und gerne fünf Jahre. In dieser Zeit verändern sich die Kundenerwartungen: Das beginnt bei den Tischen für Arbeitsgeräte – heute werden Tablets auf Tischen statt Laptops auf Knien genutzt – und endet bei der Zahl und Grösse von Velo- und Gepäckflächen. Die Traverso-Fahrzeuge der SOB bieten mit standardmässig zwölf Veloplätzen zwar schon mehr Raum als vergleichbare Züge, doch bei der damaligen Beschaffung konnte noch niemand den Veloboom erahnen, der durch die Coronapandemie ausgelöst wurde. Anpassungen an Zügen lassen sich aufgrund der Umbaukosten und Sicherheitsvorgaben frühstens nach der Hälfte der Lebensdauer – also nach etwa 15 Jahren – machen. «Wenn wir es schaffen, hier flexibler zu werden, können wir die Nutzung der Flächen im gesamten Lebensprozess eines Zuges massgeblich verändern», sagt Ingenieur Keller.

Flexible Module

Die Tüftler von erfindergeist haben deshalb eine Vision erarbeitet: Sie denken den Fahrgastraum eines Zuges als leere Hülle. Flexible Module schaffen den nötigen Platz für unterschiedliche Nutzerbedürfnisse. Benötigt man für bestimmte Fahrten andere Sitzkonfigurationen – etwa mit erhöhten Sitzen für Kinder oder Businessabteile mit ruhiger Gesprächsatmosphäre –, kann man die gewünschte Konfiguration in 10 bis 15 Minuten in einem Service-Zentrum umrüsten. Dabei orientiert sich erfindergeist an bestehenden Befestigungspunkten im Fahrzeug. Der Umbau von Modulen kann so kosteneffizient und schnell erfolgen. Noch einen Schritt weiter geht erfindergeist beim Platz für Fahrräder: Das Umkonfigurieren von Abteilen soll im Fahrgastbetrieb möglich sein. Bahnmitarbeitende können so alleine mit wenigen Handgriffen ein gewohntes Viererabteil in eine Stellfläche für Fahrräder verwandeln. «Damit kann das Personal flexibel reagieren», ist Christian Keller überzeugt. SOB-Projektleiterin Jacqueline Keller ergänzt, dass sich das Velo- und Gepäckvolumen unerwartet rasch und in grosser Menge verändere: «Zieht in den Bergen schlechtes Wetter auf, sind die Fahrgäste bereits ein bis zwei Stunden früher als geplant zurück vom Ausflug.» Die geplante Verstärkungseinheit des Zuges ist dann aber noch anderweitig verplant – es müssen schneller Plätze für Gepäckstücke geschaffen werden.

Unbequeme Klappsitze

Nun kann man einwenden, dass gerade dafür Zonen mit Klappsitzen entwickelt wurden. Christian Keller von erfindergeist erklärt dazu: «Klappsitze haben einen eingeschränkten Sitzkomfort und schaffen Konfliktzonen.» Sitzt nämlich schon jemand, müssen Radfahrer diese Fahrgäste wegbitten – ein Unterfangen, das je nach Situation trotz bezahltem Velobillett nicht von Erfolg gekrönt ist. Er fügt an: «Wir setzen deshalb in unserem Projekt darauf, dass die Sitzplätze ‹verschwinden› und nicht mehr als solche erkennbar sind.» Dadurch suchen sich Reisende ohne Gepäck automatisch einen anderen Platz. Entwicklungsziel für die multifunktionale Bestuhlung ist ein vollwertiger Sitzkomfort in gewohnter Vis-à-vis-Anordnung.

So funktioniert das Konfigurieren

Der Pilotversuch

Ein Projektteam der SOB begleitet die Entwicklung dieser konfigurierbaren Abteile, punktuell unterstützt durch Hinweise von Veloexperten anderer Bahnunternehmen. Das Transportdilemma ist längst ein Branchenthema geworden – dementsprechend sollen die Lösungen im Erfolgsfall auch anderen öV-Unternehmen zur Verfügung stehen. Nach virtuell begehbaren Wagenmodellen, ersten «Mock -ups» aus Holz und Styropor, steht nun ein Funktionsmuster zum Test bereit. Damit testen die Entwickler zusammen mit den SOB-Experten aus dem Betrieb, ob die entwickelten Ideen mechanisch funktionieren. Ende 2023 werden in einem Flirt-Fahrzeug 16 bestehende Plätze ausgebaut und durch neu entwickelte Module für einen einjährigen Pilotversuch ersetzt. Getestet wird sowohl das neue Veloabteil als auch ein flexibles Modul mit neuen Sitzmöglichkeiten für Pendlerinnen und Pendler mit Tablets und Kleingepäck.

Text: Conradin Knabenhans
Fotos: SOB, erfindergeist

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Den Velotransport besser verstehen

Wie viele Velos und Koffer werden in einem Zug eigentlich transportiert? Eine einfache Frage, die aber schwierig zu beantworten ist: Die heutigen Fahrgastzählsysteme erkennen mit ihren Sensoren nur Fahrgäste beim Ein- und Aussteigen. Kundenbegleiterinnen und Kundenbegleiter können Velos nicht lückenlos erfassen, gerade auf kurzen Streckenabschnitten reicht die Zeit nicht für Statistik und Billettkontrolle. Von unbegleiteten Zügen gibt es keine Daten. Hier prüft die Südostbahn in einem zweiten unabhängigen Förderprogramm, ob die Bildaufnahmen von bestehenden Videokameras Aufschluss geben könnten.

Gemeinsam mit der spezialisierten Firma ASE arbeitet die SOB an einer datenschutzsicheren Objekterkennung von Fahrrädern und Gepäckstücken. Die Hürden sind hoch: Die Objekterkennung darf nur auf einem eigenen Datenrechner im Fahrzeug geschehen und nicht mit Personendaten verknüpft werden. Werden in der Pilotphase Bilder zur Situationsanalyse betrachtet, soll das System zuvor Personen automatisch verpixeln, um unter keinen Umständen Rückschlüsse auf einzelne Fahrgäste ziehen zu können. Ziel ist es, wagenscharf das Aufkommen von Fahrrädern und sperrigen Gegenständen zu analysieren und langfristig den Kundinnen und Kunden so Auslastungsprognosen für einzelne Züge zur Verfügung zu stellen.

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