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Velotransport bei der SOB: Ein Gepäckwagen löst keine Probleme – er schafft neue

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Wie schafft man Platz für Velos in Zügen? Eine häufig gehörte Antwort auf diese Frage: «Führen Sie einfach den Gepäckwagen wieder ein – früher ging das ja auch.» Keine gute Idee, sagen die Spezialisten für Züge und Bahnbetrieb.

Der Velotransport im öffentlichen Verkehr boomt. Bei schönem und warmem Wetter wird das zur Herausforderung: Die Veloplätze werden knapp, Kundenbegleiter spielen Tetris mit Fahrrädern und Gepäck, im Extremfall müssen Reisende aus Sicherheitsgründen auf einen nächsten Zug ausweichen. Die Südostbahn arbeitet deshalb an einem Projekt, um das Innenleben von Zügen flexibler zu machen: Dann Platz für Velo- und Gepäck zu schaffen, wenn es ihn braucht – und in Stosszeiten gleichzeitig genügend Sitzplätze anzubieten. (Lesen Sie mehr dazu).

Das Projekt kommt – auch wenn es das Problem erst mittelfristig beheben kann – bei den Reisenden gut an, wie die direkt eingegangenen Rückmeldungen bei der Südostbahn zeigen. Doch ein Hinweis taucht in sozialen Medien und E-Mails immer wieder auf: Warum eine technisch komplexe Lösung entwickeln, wenn es früher ganz einfach ging? Früher haben die Bahngesellschaften doch einfach Gepäckwagen eingesetzt.

Lokbespannte Züge versus Triebzüge

Als die Eisenbahn erfunden wurde, war das Konzept klar: Vorne die Dampflokomotive, die mit all ihrer Kraft die dahinter eingereihten Wagen zieht. Dieses Konzept des lokbespannten Zuges wurde auch nach der Elektrifizierung weitergeführt. Müssen Züge wenden – etwa in einem Kopfbahnhof wie dem Hauptbahnhof Zürich –, braucht es dafür eine zusätzliche Lokomotive, die am Zugschluss wieder ankuppeln kann, um den Zug in die Gegenrichtung weiterfahren zu können. Und auch die ankommende Lok muss nach Abfahrt des Zuges wieder mit einem Rangiermanöver an einen neuen Verwendungsort weggestellt werden.

An anderen Bahnhöfen müsste der stehende Zug mit der Lok umfahren werden. Weil Lokomotiven und solche Rangiermanöver sehr teuer sind, ein kostspieliges Unterfangen. Gelöst wurde dieses Dilemma mit Steuerwagen: Wie Lokomotiven verfügen Sie über einen Führerstand, aber keinen eigenen Antrieb. Die Lok stösst den Zug dann an sein Ziel.

Allerdings haben diese lokbespannten Züge gewichtige Nachteile: Weil der Antrieb auf die Lok beschränkt ist, sind der Energieverbrauch hoch, die Anfahrgeschwindigkeiten verhältnismässig niedrig und die Anhängelast auf die Leistungsfähigkeit und den zu bewältigenden Steigungen des Triebfahrzeugs beschränkt.

In einem ersten Schritt wurden deshalb Triebzüge entwickelt, die auf beiden Seiten über einen Antrieb verfügen – die Wagen dazwischen jedoch nicht. Eisenbahner vom Push-Pull-Betrieb.

Deutlich energieeffizienter und schneller beschleunigt sind Züge, die den Antrieb über die ganze Länge verteilt haben. Das ist das Konzept der heutigen Triebzüge wie dem Flirt oder dem Traverso der Südostbahn: Sie verfügen nicht mehr über einzelne Wagen, sondern sind – etwas vereinfach formuliert – fest über die Drehgestelle miteinander verbunden. Das Rangieren einzelner Bestandteile ist nicht mehr möglich. Ein Flirt-Triebzug wird ein einziges Mal überhaupt getrennt, in der Hälfte seiner Lebensdauer (lesen Sie mehr hier). Ein weiterer Vorteil bei diesem Konzept: Die Fahrzeuge sind auch im Unterhalt deutlich günstiger, weil sie weniger Drehgestelle verbaut haben.

Einzelne Wagen könnte man rein theoretisch – Herausforderungen bei Technik, Normen und Gesetzesvorgaben werden an dieser Stelle ausgeklammert – auch an modernste Triebzüge anhängen. Bei Schmalspurbahnen wird dies auf einzelnen Strecken bis heute so praktiziert. Also doch ein Modell für die Velo- und Gepäckproblematik? Max Strini, Leiter Bahnproduktion der Südostbahn, schüttelt bei dieser Frage den Kopf: «In der Gepäckwagenzeit hat noch fast niemand von Pünktlichkeit gesprochen.» Er fügt zwei verschiedene Gründe an, warum das Anhängen von Gepäckwagen ein ziemlicher Zeitfresser ist.

Langsamer Fahrgastwechsel

Erstens: Das Ein- und Aussteigen der Fahrgäste dauert mit Gepäckwagen einiges länger. Die Reisenden müssen sich nach Einfahrt des Zuges zum entsprechenden Wagen bewegen, ihr Gepäck im Wagen verstauen und dann – aussen am Fahrzeug – in den Zug einsteigen. Beim Auslad wiederholt sich dieses Prozedere.

Bei der heutigen Taktdichte im Normalspurnetz ist das auf den meisten Strecken undenkbar. «Statt einer Haltezeit von 30 bis 40 Sekunden müsste man plötzlich mindestens eine Minute oder mehr pro Halt einrechnen», sagt Strini. An manchen Bahnhöfen ist das Verlängern der Züge um zusätzliche Wagen aufgrund der beschränkten Perronlängen nicht möglich.

Rangieren ist aufwändig

Zweitens spricht die Logistik dagegen: Bei einer Zugwende muss der Wagen weg rangiert werden, was zusätzlich Zeit kostet. Die Rangierlokomotive muss an den Wagen heranfahren, an- und abgekuppelt werden, danach muss dieser Rangierzug wegfahren. Unabhängig davon, ob dafür genügend freie Gleise zur Verfügung stehen würden: In den heutigen Bahnknoten zählt jede Sekunde, um aus dem Bahnsystem genügend Kapazität – und damit Verbindungen für die Reisenden – herauszuholen.

Der IR35 «Aare Linth» wendet im Hauptbahnhof Zürich in rund 5 Minuten und 30 Sekunden – Fahrgastwechsel, Lokpersonalwechsel und technische Bereitstellung des Führerstandes inklusive. Ein Wert, der im Zeitalter von lokbespannten Zügen undenkbar gewesen wäre, heute zur Stabilität des Bahnsystems aber enorm wichtig ist.

Martin Burkhard, Leiter Flottenmanagement der Südostbahn, macht noch auf einen anderen Umstand aufmerksam. Möchte man immer genügend Gepäckwagen für den Velotransport bereithalten, wären, selbst bei einer vergleichsweise kleinen Flotte wie jener der Südostbahn, grosse Stückzahlen an solchen Gepäckwagenmodulen notwendig, sonst fehlen diese just beim Zug mit den meisten Velofahrern. 

Und gerade das zeigen die Beobachtungen der Südostbahn: Die Radfahrer tauchen nicht immer dann auf, wenn man mit ihnen rechnet. Rangieren oder das heute praktizierte Verstärken der Züge mit zusätzlichen kompletten Zugeinheiten muss aber aufgrund des Personaleinsatzes geplant werden. Da sich der Veloverkehr auf die warmen Monate und schönen Tage beschränkt, würden die Wagen in der übrigen Zeit nicht genutzt und so unnötig Kosten verursachen.

Flexibler Innenraum

«Mit Gepäckwagen würden wir den status quo zementieren», sagt Burkhard. Das heisst: Jeder Wagentyp ist während seiner Lebensdauer nur für einen Einsatzzweck bestimmt – Sitzplätze bleiben Sitzplätze, leere Wagen bleiben leer. Änderungen sind, schon nur wegen der Zulassung, enorm kostspielig. «Wir müssen im bestehenden Innenraum flexibler werden, um rascher auf die sich ändernden Bedürfnisse eingehen zu können.» Hier setzt das Pilotprojekt der Südostbahn an. Ganz gratis wird auch diese Flexibilität nicht zu haben sein, das ist sich Burkhard bewusst. Aber: «Teuer sind Bau und Unterhalt der Züge, die Gestaltung des Innenraums macht dabei einen verhältnismässig geringen Anteil der Kosten aus.» Wie die Umrüstung einer bestehenden Flotte mit flexiblen Abteilen finanziert würde und wie genau das Gesamtkonzept dazu aussieht, ist noch offen und nebst den praktischen Tests Teil der weiteren Abklärungen im Projektverlauf.

Text: Conradin Knabenhans
Bilder: Markus Schälli, Patrick Gutenberg, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG (Zürich)/
Zwyssig, Thomas / Com_LC2043-001-008, Com_L39-0210-0001-0011, Com_L39-0210-0001-0013/ CC BY-SA 4.0, Flickr/lewinb CC BY-SA 2.0

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