Bahnwissen

Über Nachhaltigkeit berichten: Eine Pflicht, die bei der Südostbahn einen Denkprozess ausgelöst hat

| Bahnwissen

Die Südostbahn muss Rechenschaft über die Nachhaltigkeit in den Bereichen Wirtschaft, Soziales und Umwelt ablegen. So verlangt es der Gesetzgeber von grösseren Firmen. Doch warum ist das bei einem nachhaltigen Verkehrsmittel wie der Eisenbahn nötig? Ein Gespräch mit Thomas Küchler und Stephanie Widmer über nachhaltiges Leben, sperrige Normen und den Aha-Effekt.

Ende 2020 hat die Schweizer Stimmbevölkerung über die Konzernverantwortungsinitiative abgestimmt. Die Vorlage forderte unter anderem, dass Unternehmen mit Sitz in der Schweiz die Menschenrechte sowie internationale Umweltstandards auch ausserhalb der Schweiz zu respektieren haben und bei Verfehlungen dafür haftbar gemacht werden können. Die Vorlage scheiterte an der Urne. Deshalb trat der indirekte Gegenvorschlag zur Initiative in Kraft, der grössere Unternehmen ab dem Geschäftsjahr 2023 nebst einem finanziellen Geschäftsbericht zu einer nicht finanziellen Berichterstattung verpflichtet. Das neue Gesetz gilt auch für die Südostbahn.

Die Vorgaben lassen zwar Spielraum, doch die sinnvolle Umsetzung ist eine Herausforderung, berichten Thomas Küchler, Vorsitzender der Geschäftsleitung, und Stephanie Widmer, Fachspezialistin für Qualität, Risiko, Sicherheit und Umwelt der SOB.

Was bedeutet Nachhaltigkeit für euch?

Stephanie Widmer: Für mich bedeutet es, dass wir verantwortungsbewusst mit den Ressourcen umgehen und nur so viel nutzen, wie auch wieder nachwachsen oder sich regenerieren kann. Damit erhalten wir nicht nur unsere Lebensgrundlage, sondern auch jene der nächsten Generation. Es geht bei Nachhaltigkeit auch darum, dass unser Handeln in allen drei Aspekten – sozial, ökologisch und ökonomisch – im Gleichgewicht ist. Das ist auch für mich persönlich ein stetiger Lernprozess.

Thomas Küchler: Mir wurde Nachhaltigkeit in allen drei Aspekten in die Familienwiege gelegt. Die Auffassung, die mein Vater stets vertrat, war: «Wir sind da, um zu dienen, der Gesellschaft eine Leistung zu erbringen und der Gesellschaft einen Mehrwert zu schaffen.» Der ökologische Aspekt ist bei uns mit dem Ölschock 1973 in den Vordergrund gerückt. Als wir später ein Haus gebaut haben, haben wir früh auf alternative Heizsysteme gesetzt. Heute produzieren wir unseren eigenen Strom mit Fotovoltaik und speisen mehr ins System ein, als wir verbrauchen.

Du, Thomas, bist aber auch in einer privilegierten Situation: Du hast ein eigenes Haus, du hast die Ressourcen, um zu investieren. Bei dir, Stephanie, ist das schwieriger: Du bist Mieterin und kannst nicht einfach eine Solaranlage aufs Dach bauen, auch wenn du das möchtest.

Thomas Küchler: Umso wichtiger finde ich deshalb, dass jene, die dieses Privileg haben, der Gesellschaft auch einen Mehrwert zurückgeben.

Stephanie Widmer: Ich schaue dafür, dass ich Ökostrom beziehe, kein Auto fahre, und achte beim Einkaufen stark auf nachhaltige Produkte. Dort habe ich Möglichkeiten, auch einen Beitrag zu leisten.

Thomas Küchler: Ich pflichte Stephanie bei, hier gibt es viele Möglichkeiten. Bei uns zu Hause heisst das Motto etwa: «Einmal kochen, zweimal essen.» So vermeiden wir, dass wir Lebensmittel wegwerfen müssen. Dasselbe gilt beim Reisen: Wir müssen überlegen, mit welchem Verkehrsmittel wir unterwegs sind. Ist jede Flugreise nötig? Ich muss aber ehrlich zugeben, dass wir im Bahnverkehr in Europa qualitativ noch sehr viel zu tun haben, um hier eine attraktive Alternative zu schaffen.

Wir alle konsumieren, wir alle reisen. Immer öfter wird mit der Nachhaltigkeit geworben. Das ist doch ein Widerspruch: Letzten Endes verbrauchen wir auch bei einem nachhaltigen Produkt Ressourcen.

Thomas Küchler: Das ist ein zentraler Punkt, und gerade das offensive Werben mit Nachhaltigkeit kann dazu führen, dass die positiven Aspekte durch Mehrkonsum zunichte gemacht werden. Zu glauben, dass wir ohne Ressourcen auskommen, ist eine Illusion. Es ist alles eine Frage des gesunden Masses. Aber heute verbrauchen wir die Ressourcen viel zu wenig effizient.

Kannst du ein Beispiel nennen?

Thomas Küchler: Wir müssen etwa stärker auf langlebige und gut reparierbare Produkte setzen – etwas, das früher selbstverständlich war. Hier haben wir auch bei der SOB noch Potenzial, beispielsweise bei Computern und Mobiltelefonen. Immerhin: Wenn die Computer bei uns ausgemustert werden, spenden wir sie an eine Firma, die Geräte wieder aufbereitet, weiterkauft und damit auch Arbeitsplätze für Menschen mit einer Beeinträchtigung schafft.

Was sind die Hindernisse, hier noch konsequenter vorzugehen?

Thomas Küchler: Wir sind nicht überall frei, beliebige Geräte zu beschaffen. Als öffentliches Unternehmen müssen wir Aufträge ausschreiben. Wir haben aber dort die Möglichkeit, den Umweltgedanken noch stärker in den Fokus zu rücken. Bei den grossen Projekten haben wir das schon geschafft: Unsere Traverso- und Flirt-Fahrzeuge gehören zu den energieeffizientesten in Europa. Das ist uns gelungen, weil das ein bewusstes Zuschlagskriterium war.

Stephanie Widmer: Im Bereich Infrastruktur prüfen wir bei anstehenden Bauprojekten, wo wir etwa nachhaltigere Baumaterialien wie Recyclingbeton oder modernere Technologien einsetzen könnten, um Ressourcen zu sparen. Dass uns das auch etwas wert ist, spürt auch die Industrie. Sie investiert deshalb etwa in eine Schotterrecyclinganlage, die uns näher an das Ziel eines Wertstoffkreislaufs bringt. Anders als beim Stromverbrauch ist die Messbarkeit der positiven Effekte hier aber schwieriger.

Warum?

Stephanie Widmer: Wir stehen hier mit anderen Unternehmen zusammen ganz am Anfang. Welchen Aspekt, wie etwa den Recyclinganteil von Materialien, will man messen? Und welche dieser Kennzahlen hilft uns, um Massnahmen treffen zu können? Das müssen wir herausfinden.

Thomas Küchler: Die Digitalisierung wird uns hier helfen, unsere Datenbasis zu vergrössern. Wir können künftig besser dokumentieren, was wir wo, wie und wann verbaut haben. Heute zeigen Pläne nur die Geometrie eines Bauwerks. Das ist wichtig, weil wir hier lange Lebensdauern haben. Bei einem Tunnel sind das 80 bis 100 Jahre. Damit wir die Digitalisierung für die ökologische, soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit nutzen können, müssen wir viele Prozesse neu denken. Deshalb ist es wichtig, dass Nachhaltigkeit auch in der Unternehmenskultur verankert ist und gelebt wird.

Der Gesetzgeber fordert, dass wir Rechenschaft über soziale und ökologische Nachhaltigkeit ablegen. Kann man das? Auch wenn man gar nicht überall weiss, was man messen müsste?

Stephanie Widmer: Die regulatorischen Anforderungen lassen einen gewissen Freiraum zu. Wir haben uns bei der Südostbahn entschieden, derzeit keinen Nachhaltigkeitsbericht nach einem internationalen Standard zu erstellen, um nicht einen Papiertiger mit vielen für uns unwichtigen Zahlen zu schaffen. Den geforderten CO2-Fussabdruck des Unternehmens haben wir erstellt, auch um zu sehen, wo die grossen Hebel für uns liegen. Diese Berechnung basiert auf dem etablierten Greenhouse Gas (GHG) Protocol. Nicht alle Kennzahlen dieses Standards sind für alle Unternehmen aber gleich relevant: Während die Zahl der verschickten Pakete bei der SOB nur einen marginalen Einfluss auf den Fussabdruck haben, sieht das bei einem Versandhändler ganz anders aus. Wir sind hier gefordert, die für uns relevanten Zahlen herauszufiltern und vergleichbare Daten zu erstellen.

Thomas Küchler: Aber es ist auch etwas verrückt. Gerade beim CO2-Ausstoss im Bereich Mobilität ist der öV die Lösung zum Problem. Ausgerechnet wir müssen nun Rechenschaft über den CO2-Ausstoss ablegen, wo wir zum grössten Teil bereits mit erneuerbarer Energie unterwegs sind. Im Gebäudebereich oder bei Strassenfahrzeugen haben aber auch wir noch Entwicklungsmöglichkeiten. Dieses Potenzial ist aber irgendwann ausgeschöpft.

Stört dich also der Zwang zur Berichterstattung, Thomas?

Thomas Küchler: Zuerst hatte ich zugegebenermassen ein Grummeln in der Magengegend. Aber es hat bei mir und im ganzen Unternehmen einen Denkprozess ausgelöst. Es geht eben längst nicht nur um CO2, sondern um Ressourcen allgemein. Und hier haben wir gewaltige Hebel im Bereich der Bahninfrastruktur. Indirekt haben wir einen grossen CO2-Ausstoss, wenn wir an den grossen jährlichen Verbrauch von Beton, Schotter oder Stahl denken. All diese Dinge sind sehr energieintensiv in der Herstellung. Dasselbe gilt bei den Zügen. Sie haben heute nur eine Lebensdauer von 30 Jahren. Wenn wir diese Aluminiumwagenkästen verschrotten müssen, geht eine Menge Energie aus der Herstellung verloren. Zerlegen und neu aufbauen wäre viel effizienter.

Was muss sich ändern, damit wir besser werden?

Thomas Küchler: Die Aufsichtsbehörden schreiben uns vor, dass wir immer die neusten Anforderungen erfüllen müssen. Diese übertriebene Gläubigkeit an Normen führt bei unseren Traverso-Fahrzeugen etwa dazu, dass wir mehrere Tonnen zusätzliches Gewicht mitführen müssen, um die europäischen Crashnormen für Bahnübergänge zu erfüllen. Bahnübergänge, die es in dieser Form bei uns kaum mehr gibt. Das ist widersinnig. Hier haben Politik und Verwaltung die Verpflichtung, auch nachhaltig zu handeln. Das gilt auch im Infrastrukturbereich. Wir müssen kreative Lösungen wieder zulassen. Eine Norm ist kein Gesetz, auch wenn das heute viele meinen.

Ist der erste SOB-Nachhaltigkeitsbericht der Weisheit letzter Schluss?

Stephanie Widmer: Nein. Der Bericht wird sich entlang unseres Engagements sicher in den nächsten Jahren immer wieder verändern. Wir lernen laufend dazu, was wir abbilden und wie wir am besten aufzeigen können, wo und wie wir uns nachhaltiger aufstellen. Der gesellschaftliche Fokus richtet sich derzeit auf CO2 und Klima, andere Messgrössen werden dazukommen.

Thomas Küchler: Was aber in den kommenden Jahren konstant bleiben wird, ist unsere gemeinsam erarbeitete Haltung des nachhaltigen Handelns. Wir haben über alle Geschäftsbereiche und Hierarchiestufen hinweg das Thema mit all unseren Mitarbeitenden an Konferenzen diskutiert und viele Ideen für Projekte gesammelt. Das wird uns als Unternehmen weiterbringen.

Geschäftsbericht 2023

Der Geschäftsbericht der Schweizerischen Südostbahn AG ist hier zum Download abrufbar.

Interview: Conradin Knabenhans
Fotos: Manuela Matt, André Herger, Hanspeter Schenk, Conradin Knabenhans

Zu den Personen

Thomas Küchler (1961) ist seit 2010 Vorsitzender der Geschäftsleitung. Er ist gelernter Tiefbauzeichner und Bauingenieur.

Stephanie Widmer (1991) ist seit 2022 als Fachspezialistin für Qualität, Risiko, Sicherheit und Umwelt bei der SOB tätig. Die Umweltbeauftragte ist studierte Umweltingenieurin und hat ihr Studium in den Fachrichtungen Umweltsysteme und Nachhaltige Entwicklung vertieft.

nach oben