(Bei) euch piepst es wohl! Normen und Vorschriften im Eisenbahnverkehr

| Bahnwissen

Für einige Fahrgäste ist die Notwendigkeit des unüberhörbaren Piepsens von Zugtüren unverständlich, ja gar unerhört. Warum es diese lauten Töne braucht und was es mit anderen Vorschriften und Normen auf sich hat, erklärt Peter Bruderer, Leiter Projektmanagement & Beschaffung der Südostbahn.

Peter, du hast die letzten Jahre für die SOB 24 Traverso- und 10 Flirt3-Züge beschafft. Was hat es mit dem Piepsen auf sich?

Gemäss TSI, das sind die technischen Spezifikationen für die Interoperabilität, müssen alle neuen Züge mit einem akustischen (und optischen) Warnsignal ausgestattet sein, das beim Öffnen und Schliessen der Türen ertönt. Die Tonhöhe und die Lautstärke sind europaweit vorgeschrieben, ebenso die Abfolge und die Anzahl der Töne. Einzig bei älterem Rollmaterial gilt der Bestandesschutz, jedoch müssen bei grösseren Umbauten der Fahrzeuge die neuen Vorschriften umgesetzt werden.

Das klingt plausibel – und doch recht kompliziert. Wozu braucht es die TSI?

Vereinfacht gesagt haben die TSI den Zweck, einheitliche Standards für den grenzüberschreitenden (Eisenbahn-)Verkehr zu setzen, die ein sicheres und interoperables, also ein technisch kompatibles Bahnsystem in Europa ermöglichen. Diese Anforderungen wurden von der EU festgelegt und in deren Auftrag von der Europäischen Eisenbahnagentur (ERA) ab 1999 schrittweise veröffenticht.

Somit gelten die TSI auch für die Schweiz?

Die Schweiz hat die TSI in globo übernommen und im Eisenbahngesetz (EBG) verankert. Die Details sind in der Eisenbahnverordnung (EBV) geregelt.

Und wieso besteht denn nun ein Zusammenhang zwischen dem Piepsen der Zugtüren und einem technisch kompatiblen Bahnsystem?

Es gibt TSI sowohl für die Infrastruktur wie auch für das Rollmaterial. Das bedeutet, dass Fernverkehrszüge wie etwa ein Eurocity oder ein TGV zwischen Deutschland respektive Frankreich und der Schweiz verkehren können. Es heisst aber auch, dass alle Fahrgäste, also auch jene mit eingeschränkter Mobilität, in ganz Europa ungehindert reisen können und sich gut zurechtfinden.

Du hast zum Gespräch eine Excel-Liste mit über 200 verschiedenen Vorschriften, Normen und Richtlinien mitgebracht. Sind dies alles TSI-Anforderungen?

Nein, das meiste sind Normen, die von verschiedenen Gremien herausgegeben werden. Für die europäischen Normen (EN) beispielsweise vom Europäischen Komitee für Normung (CEN) oder vom Europäischen Komitee für elektrotechnische Normung (CENELEC). Normen sind Regeln oder Empfehlungen und haben im Gegensatz zu den TSI keine gesetzliche Rechtskraft, sofern sie nicht in einer TSI verbindlich vorgeschrieben sind; sie halten den Stand der Technik fest und werden verwendet, um Sicherheits- und Qualitätsstandards zu definieren.

Könnte man zusammenfassend sagen, dass die TSI definieren, welche Normen zur Anwendung kommen, die dann zwingend erfüllt werden müssen?

Ja, genau. Es gibt übergeordnete Vorschriften wie die TSI, die gesetzlich vorgeschrieben sind. Dabei handelt es sich überwiegend um Sicherheits- und Kompatibilitätsthemen. Daneben gibt es Normen, die wir freiwillig anwenden und unseren Rollmaterialherstellern in den Werkverträgen vorschreiben. Hierbei handelt es sich um Qualitäts- und Energiethemen wie auch um Komfortfragen.

Welche Beispiele gibt es im Bereich TSI?

Nehmen wir den Brandschutz: Da es sich um ein Sicherheitsthema handelt, ist es in den TSI geregelt. Ein Zug muss aus schwer entflammbaren Materialien gebaut sein. Das gilt auch für die textilen Bereiche wie Bodenbeläge oder Sitzbezüge. Sollte es dennoch brennen, muss ein Zug auch im Vollbrand 15 Minuten fahrfähig bleiben, um aus einem Gefahrenbereich wie einem Tunnel herauszukommen. Das setzt redundante Systeme in den Bereichen Antrieb und Kommunikation voraus. Auch eine Brandbekämpfungseinrichtung, eine Notbeleuchtung und Alarmierungssysteme müssen vorhanden sein. Weitere Bereiche, bei denen Nulltoleranz gilt, sind etwa die elektrische Sicherheit oder die Zugüberwachung. Es gäbe zig weitere Beispiele.

Aber es geht nicht nur um Sicherheit?

Sicherheit ist zwar ein wichtiges Thema bei der Rollmaterialbeschafftung, aber es geht auch um das Thema Komfort, das wiederum Anforderungen aus dem Behindertengleichstellungsgesetz oder betreffend Klima und Lärm definiert.

Kannst du das genauer erläutern?

Das eingangs erwähnte Beispiel zum Türpiepsen erfüllt die Sicherheitskriterien, damit sehbehinderte Personen wissen, dass die Türen geöffnet oder geschlossen werden, wenn das Warnsignal ertönt. Das laute Piepsen dient aber auch jemanden mit einer Hörbeeinträchtigung. Deshalb ist diese Anforderug in der Richtlinie TSI PRM (people with reduced mobility – eingeschränkt mobile Personen) festgehalten – in diesem Bereich geht die Schweiz übrigens viel weiter als andere Länder in Europa.

Es gibt noch zahlreiche andere Beispiele, wie etwa die Platzierung der Tasten für die Türöffnung, die von Blinden ertastet und von Menschen im Rollstuhl erreicht werden können. Die Mindestanzahl Rollstuhlplätze ist definiert, ebenso die Steilheit der Rampen oder die Durchgangsbreite der Gänge zwischen den Sitzreihen. Dann gibt es Vorschriften zum Kontrast zwischen Boden und Wänden oder zur Mindesthelligkeit beim Licht, wobei hier zwischen Einstiegsbereich, der heller sein muss, und dem Licht in den Abteilen unterschieden wird. Und allen Vorgaben gemein ist, dass letztlich alle Fahrgäste davon profitieren! Das Reisen wird dadurch nicht nur sicherer, sondern auch viel komfortabler

Welche Normen sind besonders herausfordernd?

Ein hochkomplexes Thema sind die Vorgaben zur Klimatisierung: Hier geht es vor allem um Behaglichkeitskriterien für die Fahrgäste wie Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Strömungsgeschwindigkeit oder Oberflächentemperaturen. Weil das Empfinden jedes einzelnen Menschen sehr individuell ist, mussten Kriterien entwickelt werden, die eine Mehrheit als angenehm empfindet. Diese sind seither in einer europäischen Norm definiert. Auch zum Energieverbrauch gibt es zahlreiche definierte Vorschriften.

Beim Thema Lärm sind die Vorschriften in der Schweiz ebenfalls strenger als in der EU. Sie schreiben unter anderem die Dezibel-Höchstwerte für die Laufruhe der Räder, die Windgeräusche bei Schnellfahrten oder Klimaanlagengeräusche vor. Bei den akustischen Signalen oder bei Durchsagen können wir auf moderne Technik zurückgreifen, die die Lautstärke dem Umgebungslärm anpasst.

Das Türpiepsen empfinden einige auch als Lärm.

Auch hier ist die Wahrnehmung natürlich sehr persönlich. Deshalb wurden dafür nicht nur eine Dezibeluntergrenze, sondern auch Höchstwerte festgelegt

Wer kontrolliert die Ausführung all dieser Anforderungen?

In einem klar definierten Abnahmeverfahren sind dies unsere Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Fachbereichen der SOB. Ein sehr aufwendiger Prozess, bei dem wir sicherstellen, dass die Fahrzeuge so gebaut und ausgestattet sind, wie wir sie bestellt haben.

Überprüft ihr auch die gesetzlichen Vorgaben?

Bei der Fahrzeugübernahme überprüfen wir natürlich und vorwiegend auch diese Vorgaben. Unser Einverständnis allein aber genügt nicht. Damit ein Fahrzeugtyp in Verkehr gesetzt werden darf, braucht es eine Zulassung. Das Bundesamt für Verkehr (BAV) überwacht den Prozess und die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften jedes einzelnen Zugs und stellt dann die Betriebsbewilligung aus.

Der ganze Beschaffungsprozess ist sehr intensiv und stellt viele Herausforderungen. Aber all die Vorschriften scheinen absolut Sinn zu ergeben.

Auf jeden Fall. Die Beschaffung erfordert viel Wissen, Erfahrung, Durchhaltewillen und Zeit (der Beschaffungsprozess erstreckt sich meist über mehrere Jahre) – die ist aber gut investiert.

Und was ist mit dem «kreativen Gestaltungsfreiraum»?

Innovationen werden durch die strikten Vorgaben oft unterbunden, aber am wichtigsten ist, dass alle Fahrgäste sicher reisen können, und da gehört das Türpiepsen nunmal dazu.

Text: Claudia Krucker
Bilder: Daniel Ammann, Christof Sonderegger

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