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Volle Aufmerksamkeit bei jedem neuen Traverso

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Ein weiterer Traverso für die Fernverkehrslinie Aare Linth steht in Erlen (TG) bei der Firma Stadler. Er ist bereit für die statische Übernahme und die darauffolgende dynamische Prüfung der Südostbahn. Es folgen intensive und unberechenbare Tage, die für alle Beteiligten immer wieder aufs Neue bereichernd sind.

Das SOB-Team der statischen Prüfung sieht den neuen Traverso zum ersten Mal in Erlen (TG). Es ist einer von insgesamt sieben Traverso aus der dritten Serie. Dazu kommen noch weitere fünf Fahrzeuge des Typs Flirt 3.

Die statische Prüfung

Im Zug findet ein Briefing zwischen dem Stadler- und dem SOB-Team statt. Gleich zu Beginn legt Stadler offen, welche Mängel noch bestehen. Danach entscheidet Hanspeter Schenk, Leiter der Übernahmeprüfungen der SOB, ob das Stadler-Team die Mängel beheben muss. Wenn die Beseitigung eines Mangels, den der Fahrgast nicht bemerken würde, viel Abfall bedeutet und der Aufwand und der Ertrag in keinem Verhältnis stehen, ist er nachsichtig. Das kann beispielsweise ein Kratzer auf dem Boden sein. Bei der Behebung würde viel intaktes Material in den Müll wandern. Der ökologische Gedanke und die Verhältnismässigkeit spielen dabei eine grosse Rolle. Das widerspiegelt die Philosophie der SOB und so funktioniert die gute Zusammenarbeit: durch Transparenz und Fairness.

Am ersten Tag der statischen Prüfung begutachtet das Viererteam der SOB hauptsächlich die Fertigung und die Ausführungsqualität.

Das SOB-Team arbeitet mit umfangreichen Checklisten, die rund 2000 Kontrollpunkte für die beiden statischen Prüfungstage umfassen. Es geht aber nicht nur um das Abarbeiten von Checklisten: Offene Augen und Ohren sowie viel Erfahrung sind unersetzlich. Das SOB-Team kennt die «Schwachstellen» und arbeitet aus der Erinnerung der letzten Übernahmen heraus. Ziel der statischen Abnahmen im Werk ist, die sicherheitsorientierten Funktionen zu überprüfen und das Fahrzeug für die dynamische Übernahmeprüfung freizugeben. Nach der statischen Werkabnahme hat das Stadler-Team einen Tag Zeit, allfällige Mängel zu beseitigen.

Führt man sich vor Augen, aus wie vielen Kabeln und Einzelstücken dieses Rollmaterial besteht und wie viele Personen daran arbeiten, relativiert das einen einzelnen Mangel. Im kommerziellen Betrieb ist die Bedeutung eines Mangels eine andere. Hier führt die kleinste Störung unter Umständen zu grösseren Problemen mit Folgen: Der Betrieb muss bei einem Ausfall die Fahrzeugeinsätze neu planen oder Passagierinnen und Passagiere können nicht weiterfahren.

Raus aus dem Werk

An den zwei Tagen der dynamischen Prüfung sammelt der Traverso erste Kilometer. An Bord sind der Leiter der Übernahmeprüfungen, ein Probefahrleiter, SOB-Testlokführer, Fahrzeugverantwortliche aus der Inbetriebsetzung sowie Projektleiter oder Co-Projektleiter der Firma Stadler. Die Teams prüfen die Funktionen für den kommerziellen Betrieb.

Die Teststrecken

Am ersten Tag der dynamischen Prüfung verkehrt der Traverso als Einzeltraktion zwischen Sulgen und Romanshorn. Am zweiten Tag werden zwei Züge «getauft». Das heisst, sie werden gekoppelt und verkehren mit einem Flirt 3 als 225 Meter lange Doppeltraktion von Herisau nach Einsiedeln und zurück. Aufgrund der Kopplung ist ein zusätzlicher Testlokführer oder eine zusätzliche Testlokführerin an Bord. Eine interessante Strecke: Zwischen Herisau und Einsiedeln liegen der Wasserfluh- sowie der Rickentunnel und eine Steigung bzw. ein Gefälle von 50 Promille. Zudem ist die Fahrbahn von Biberbrugg nach Einsiedeln kurvenreich und das führt zu unterschiedlichen Geräuschen im Zug.

Scheppert es, stimmt etwas nicht. Ab Uznach bis Einsiedeln fährt der Flirt vorne. Das Team testet mit dieser Traktionsvariante, ob der Informationsaustausch zwischenden beiden Fahrzeugen funktioniert. Dazu gehören zum Beispiel Fahrgastdurchsagen über die Lautsprecher, ein Notruf an die Bahnpolizei oder das Testen der Zugkraft und der Bremswege mit unterschiedlichen Bremssystemen sowie diverser Funktionen des Zugbeeinflussungssystems.

Voller Einsatz

Das Team prüft das Fahrzeug auf Herz und Nieren. Alles ist möglich, und das macht Spass. Die Fachleute erproben und simulieren Gegebenheiten, die im Normalbetrieb nur selten vorkommen. Sie lösen die Brandmeldeanlage sowie die Notbremsen aus und verkehren im Steuerwagenbetrieb, das heisst, der hintere Zug schiebt den Traverso. Das Team geht rund 450 Kontrollpunkte durch. Es läuft pausenlos
etwas, auch wenn der Zug stillsteht. Im Fahrplan der Übernahmefahrt sind Wartezeiten eingeplant, um auf der Strecke statische Prüfungen durchzuführen. Die Testlokführer sind im ständigen Austausch mit dem Probefahrleiter. Dieser überprüft im Führerstand die im Zug ausgelösten Signale. Ein eingespieltes Team, und das mit vollem Körpereinsatz: Michael Dietrich stellt sich zwischen die Schiebetüre und prüft, wie viele Male und wie stark die Schiebetüre zugeht. Eingeklemmt zwischen den Schiebetüren sagt Michael: «Ich habe Vertrauen in das Fahrzeug», und lacht.

«Lobe den Tag nie vor dem Abend»

Was macht das Stadler-Team während der Fahrt? Serhat Sahin, der Fahrzeugverantwortliche dieser Fahrzeugübernahme, hat das Fahrzeug über sechs Wochen begleitet. In diesen Tagen hält er den Kopf für alles hin, was nicht funktioniert. In Windeseile muss er reagieren und delegieren. Er bietet die Fachleute für die verschiedenen Systeme wie Pneumatik, Mechanik, Hydraulik oder Elektrik auf. Das heisst aber auch, selbst Handanlegen und in Stresssituationen einen kühlen Kopf bewahren. Im Nu muss er eine Lösung finden. «Lobe den Tag nie vor dem Abend», sagt Sahin. Ein Sprichwort, das während dieser Tage nicht nur von ihm zu hören ist.

Glanzleistung

Und wie der erste Tag der statischen Werkabnahme begonnen hat, so endet der letzte Tag der dynamischen Übernahmeprüfung: Kontrollgang in der Grube unter dem Zug im Service-Zentrum Herisau und Kontrollgang auf dem Dach des Zugs. Etwas fehlt noch: die Unterschrift. Hanspeter Schenk und Christian von der Weth, Co-Projektleiter von Stadler, unterzeichnen die Übernahme. 30 Mängel wären für eine
Fahrzeugübernahme «erlaubt». Die dritte Serie, bestehend aus sieben Traverso und fünf Flirt 3, profitiert von den Erfahrungen, die bei der ersten und zweiten Serie gemacht wurden: Die Anzahl der Mängel ist deutlich tiefer. Nicht nur das Team von der Abnahme, auch die Fachkräfte aus dem Betrieb und dem Flottenmanagement mussten einige Herausforderungen meistern und für die Flottenstabilität sorgen. Das neue Rollmaterial glänzt. Im Hintergrund war und ist viel Einsatz von allen Parteien nötig, damit die Züge reibungslos auf den SOB-Linien verkehren.

Text und Fotos: Ramona Schwarzmann

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Abbildung des mehrstufigen und vollständigen Prozesses. Rot markiert die im Text beschriebene Übernahmeprüfung.

Der Ablauf in Kürze

Vor der definitiven Abnahme der Fahrzeuge erfolgt zuerst eine Übernahme. Das Ganze geschieht in einem mehrstufigen Prozess.

Der Übernahme geht eine etwa sechswöchige Inbetriebsetzungs- und Prüfphase durch den Hersteller Stadler voraus. Anschliessend prüfen Fachleute der SOB das Fahrzeug. Zuerst zwei Tage statisch im Herstellerwerk und danach zwei Tage dynamisch während Testfahrten auf der Strecke. Nach der Übernahme durchlaufen die Fahrzeuge eine Bewährungsphase. Dabei verkehren sie im kommerziellen Betrieb und die Südostbahn überwacht das neue Rollmaterial genau. Erst wenn die Fahrzeuge nach 30 Tagen die festgelegten Zuverlässigkeitskriterien erfüllt haben, nimmt sie die SOB definitiv ab.

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