Geschichte

Zugfahren entlang des Alpenrheins – grösster Wildbach Europas

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Der Alpenrhein, der Rhein nach dem Zusammenfluss von Vorder- und Hinterrhein bei Reichenau, wird heute kaum noch wahrgenommen. Er fliesst im Rheintal diskret hinter Dämmen verborgen Richtung Bodensee. Landschafts- und Kulturwandel im Lauf der vergangenen 200 Jahre am Alpenrhein faszinieren.

Vor 200 Jahren stand bei Tardisbrugg an der Kantonsgrenze zwischen Graubünden und St. Gallen die einzige Rheinbrücke. Der teils mehrere Hundert Meter breite Flusslauf konnte einst nur mit Fähren gequert werden. Am Schollberg bei Trübbach war der Landweg auf hochwassersicherer Höhe angelegt, Flösserei ab Reichenau oder Chur und Schifffahrt ab Trübbach gehörten damals zum Alltag. Weiter unten im Gebiet Diepoldsau–Hohenems nutzten schwimmende Rheinmühlen das Wasser. Regelmässige Überschwemmungen erschwerten die landwirtschaftliche Nutzung der Talschaft und wurden als stete existenzielle Bedrohung wahrgenommen. Die Dynamik der Wasserführung des Rheins von nahezu 1 zu 100 ist charakteristisch für einen Wildbach, das heisst, einer Minimalwasserführung von etwa 40 Kubikmetern pro Sekunde stehen Hochwasserspitzen von 3 000 Kubikmetern pro Sekunde gegenüber. Mit dem Klimawandel sind bereits heute sogar Hochwasserspitzen bzw. Katastrophenhochwasser von deutlich über 3 000 Kubikmetern pro Sekunde zu erwarten.

Entwicklung einer Talschaft

Dass vor 10 000 Jahren ein Rheintalsee und ein weit rheinaufwärts reichender Bodensee existierten, lässt eine beträchtliche Geschiebeführung des Alpenrheins erahnen. Insbesondere das Geschiebe aus dem Bündnerland sorgt auch heute für die fortschreitende Verlandung des Bodensees. Wasserbauingenieure des 19. Jahrhunderts erkannten die laufende Geschiebeablagerung im Rheintal und ungenügende Dammbauten als Grund für die sich wiederholenden Überschwemmungen und eine zunehmende Versumpfung. Erst die Verkürzung des Rheinlaufs durch zwei etwa fünf Kilometer lange Durchstiche brachte in Kombination mit der Einengung (Kanalisierung) den nachhaltigen Erfolg und die Voraussetzungen zugunsten einer prosperierenden Volkswirtschaft und nutzbaren Kulturlandschaft. Zu guter Letzt: Die heute in der Kritik stehende Kanalisierung verleiht dem Alpenrhein die nötige Schleppkraft für den erwünschten Geschiebetransport Richtung Bodensee.

Die Eisenbahnbrücke bei Bad Ragaz machte 1858 den Anfang der Brückenbauperiode im Rheintal. Denn die Dammbauten erlaubten fortan den Bau zahlreicher Rheinbrücken, besiegelten aber auch das Ende der Rheinfähren und der Flösserei. Erst mit dem grenzüberschreitenden Gemeinschaftswerk Internationale Rheinregulierung gelangen auch zwischen der Illmündung, etwa gegenüber der Ortschaft Rüthi (SG) gelegen, und dem Bodensee ein wirksamer Hochwasserschutz und die Geschiebeabfuhr bis in den Bodensee. Schattenseite der langjährigen Baumassnahmen ist zweifellos die ökologische Verarmung im und am Rhein. Hochwassersicherheit und volkswirtschaftliche Prosperität fordern ihren Tribut, wie das Generationenwerk längst zeigte. Heute spricht man vom grenzüberschreitenden Wirtschaftsraum Rheintal und einer Hightechregion. Das dicht besiedelte Rheintal als Lebensader oder Lebensraum, als Verkehrsweg für Strasse und Schiene beidseits des Alpenrheins, als Pipeline- und Hochspannungstrassee sowie als Industrie- und Landwirtschaftsareal: Das ist die heutige Wirklichkeit wie auch das gegenwärtige Spannungsfeld.

Schauplatz Bad Ragaz

Der Rheinlauf bei Bad Ragaz bietet eine Vielfalt oder ein Konzentrat von Rheinperspektiven: eine Eisenbahnbrücke mit Fussgängersteg, die Taminamündung, die Rheinquerung der einstigen Ölpipeline Genua–Ingolstadt, die Autobahnbrücke der A13 und mehrere Hochspannungsleitungen. Eine Begehung des Flussbettes ist bei Ragaz meist gut möglich und lässt etwas Wasserbau und Geologie erleben. Gewichtige, bereits rund geschliffene Steine liegen dort im feinen, dunkelgrauen Sand – Erosionsprodukte aus dem Bündnerland. Bei den Mündungsbauwerken und Leitdämmen im Bodensee sind dagegen nur noch Unmengen Sand, grau gefärbtes Wasser und etwas Kies zu finden. Kiloschwere Steine sucht man dort vergeblich, denn der Alpenrhein ist eine wahre Gesteinsmühle oder eindrückliche Erosionsmaschine. Die Geologie des Quellgebietes und der oben liegenden Talschaften hinterlässt ihre Spuren.

Schauplatz Trübbach

Augenfällig ist in Trübbach der hohe Rheindamm mit der Autobahn A13 auf der Dammkrone. Tatsächlich waren die Rheindämme, auch Wuhre genannt, einst gar nicht vorhanden bzw. wesentlich weniger hoch und das Dorf mit seinen Anlegestellen lag noch offen zum Rhein. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war Trübbach Sitz von Rheinschifferdynastien und Ausgangspunkt für Schiffsfahrten Richtung Bodensee. Der damals noch breite und brückenfreie Rheinlauf mit der geringeren Fliessgeschwindigkeit liess kleine Schiffe mit flachen Böden zu. Vermutlich erfolgte die Bergfahrt der Schiffe zurück nach Trübbach mittels Pferdezug. Der Ortsname Trübbach stammt übrigens vom gleichnamigen Seitengewässer Trübbach, das sich durch seine stets grosse Geschiebefracht auszeichnet.

Zwischen Trübbach und Sargans lassen sich am Schollberg nicht nur Festungsbauwerke aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und ein Steinabbau jüngeren Datums bestaunen. Die alte, teilweise rekonstruierte Schollbergstrasse, gleichsam an den Fels geklebt, lässt erahnen, dass der Rhein den Fuss des Schollbergs erreichte und es dort vielfach kein Durchkommen gab. Aus der heutiger Sicht fast unglaublich, aber dennoch Rhein- und Verkehrsgeschichte pur.

Schauplatz Illmündung

Die Einmündung der Ill in den Alpenrhein ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert, denn sie gilt als oberes Ende des Projektperimeters der Internationalen Rheinregulierung. Das 1892 initiierte grenzüberschreitende Vorhaben umfasste schwerpunktmässig den Bau des Fussacher Durchstichs (1900), des Diepoldsauer Durchstichs (1923) und der Mündungsvorstreckung in den Bodensee (2012).

Bei der Illmündung kann zudem der Übergang vom einfachen Hochwuhrsystem zum sogenannten Doppelliniensystem beobachtet werden. Der Rheinlauf durch die Talebene bis zum Bodensee besteht nämlich unterhalb der Illmündung aus einem Mittelgerinne für die Normalwasserführung und den als Wiesland genutzten, überflutbaren Vorländern mit den Hochwasserdämmen, die zusammen mit dem Mittelgerinne grössere Wassermengen bis etwa 3 000 Kubikmeter pro Sekunde aufnehmen können. Der Fluss Ill aus dem vorarlbergischen Montafon bildete mit seinem Geschiebe das Delta, das einst den Bodensee vom sogenannten Rheintalsee trennte. Gegenwärtig wird das Wasser der Ill dem Kraftwerk unmittelbar vor der Einleitung in den Rhein zugeführt.

Anregungen für Wanderungen und Schauplätze von Anton Heer

Bündner Herrschaft: Der Fussgängersteg der Bad Ragazer Eisenbahnbrücke kann als Ausgangs- oder Endpunkt für Wanderungen durch die Bündner Herrschaft mit ihren Rebbergen dienen. Das sonnenexponierte Gebiet ist als Wandergebiet zu allen Jahreszeiten geeignet und gut markiert.

Ellhorn & Schollberg: Der Fussweg auf der rechten Rheinseite am Fuss des Ellhorns (Fläsch–Balzers) und die Begehung der alten Schollbergstrasse (ab Trübbach) auf der linken Talseite lassen etwas Rheingeschichte aufleben.

Die Rheinwege erwandern oder erfahren: Wanderwege von Oberriet über Meiningen und Illmündung nach Rüthi oder Sennwald sind ganzjährig machbar. Ab Sargans sind die Dammkronen meist beidseits des Rheins als Rad- und Fusswege Richtung Bodensee passierbar.

Der Rhein aus der Vogelperspektive: Die mehrstündige Bergwanderung von Rüthi (SG) zum Hohen Kasten oder die Fahrt mit der Kastenbahn belohnen mit eindrücklichen Aussichten über die Rheinebene.

Rhein-Schauen: Anlässlich des Staatsvertragsjubiläums 1892–1992 wurde die Ausstellung Rhein-Schauen in Lustenau und Widnau/Diepoldsau eröffnet. Die anregende Darstellung der Rhein- und Talgeschichte ist im vorarlbergischen Lustenau zugänglich geblieben.

Eisenbergwerk Gonzen: Ein technikgeschichtlich eindrückliches Ereignis.

Rheintaler Höhenweg: Die Route 86 umfasst den Weg von Rorschach nach Sargans mit einer Länge von 105 Kilometern und 5200 Höhenmetern. Der Höhenweg lässt sich gut abschnittsweise und beliebig nach individuellen Ansprüchen bewältigen. Vorgeschlagen werden die folgenden Abschnitte: Rorschach– Berneck, Berneck–Altstätten, Altstätten–Sennwald, Sennwald–Wildhaus, Wildhaus–Malbun (Buchserberg), Malbun (Buchserberg)–Sargans. Mehrere Abschnitte der Route 86 sind zudem durch den öV bzw. durch Einstiege in öV-Nähe erschlossen.

 

Text: Anton Herr
Fotos/Skizzen: Anton Herr, ETHZ

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