Der Treno Gottardo unterwegs zwischen Lavorgo und Bodio: Sieben uralte Kirchen, verbotene Gemälde, mysteriöse Ruinen, eine prachtvolle Herberge, romantische Brücken, eine Flussinsel, Grotti und ausgezeichnete Weine: Es gibt viele gute Gründe für einen Streifzug durch Giornico.
Das Tessin ohne Merlot? Undenkbar! Tatsächlich gehören Rebberge zum Landschaftsbild, seit die Römer den Weinbau vor über 2000 Jahren einführten. Selbst in der Leventina gedeihen Reben. „In Giornico sollte man einen speziellen Hinweis anbringen, ein Spruchband vielleicht oder einen Triumphbogen aus Zweigen, damit auch der zerstreuteste und eiligste Reisende, oder der ungnädigste, merkt, dass er die Zivilisation des Weins betreten hat“, forderte der Schriftsteller Guido Caligaris 1959. Aber wieso ausgerechnet in Giornico? „Hier, mehr als auf dem Sankt Gotthard, endet das Land der Kartoffeln und des Biers, es beginnt jenes der Polenta und des Weins.“
Der Kulturwandel ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Denn Giornico, eingezwängt zwischen steile Felswände, wirkt etwas grau mit seinen sieben Kirchen, der alten Granitbrücke, der schmalen gepflasterten Strasse durch den historischen Dorfkern, über die vor der Eröffnung der Bahnlinie der Postillon vom Gotthard und weitere Kutschen und Fuhrwerke gerattert sind. Doch der 850-Einwohner-Ort strahlt auch Wärme aus – im wahrsten Sinne des Wortes. Die Gneiss- und Granitblöcke speichern die Wärme des Tages und geben sie nachts wieder an die Umgebung ab. Die Reben, die nördlichsten im Tessin, profitieren davon, und um sie vom Bodenfrost fernzuhalten, lässt man die besonders heiklen an horizontal befestigten Granitpfosten auf etwa Mannshöhe hängen; die Methode wird Pergola-Erziehung genannt.
Mitten im Dorf befindet sich der Torre di Atto, der in markanter Weise die übrigen Häuser überragt. Der Wohnturm ist wahrscheinlich das älteste Baudenkmal der Leventina. Er umfasst noch sechs Stockwerke, nachdem 1846 wegen eines Einsturzes der oberste Teil abgetragen wurde. Der Legende nach soll der Turm von Atto da Giornico errichtet worden sein, der als Bischof von Vercelli in Italien amtierte. Atto stammte von Desiderius ab, dem letzten König der Langobarden, und war Feudalherr in der Region. In seinem Testament vermachte er im Jahre 948 die Leventina und das Blenio-Tal den Geistlichen des Domkapitels von Mailand. Für die lokale Bevölkerung hatte das den Vorteil, dass sie weniger Abgaben entrichten mussten, weil die Domherren keine Kriege führten. Im Gegensatz zu anderen Feudalherren mischten sie sich nicht in die Eroberungspolitik ein, so dass die Herrschaft der geistlichen Grafen als eine ruhige Zeit in Erinnerung blieb.
Die im Jahr 1345 geweihte Kirche liegt versteckt in einem Kastanienwald am ehemaligen Gotthard-Saumpfad, also direkt am Pilgerweg nach Rom respektive ins Heilige Land. Kein anderes Gotteshaus im Tessin verfügt über eine derart reiche Bemalung. An der Talseite ist das Wappen der Leventina abgebildet, links das Wappen des Kantons Uri, der von 1480 bis 1798 die Herrschaft über die Leventina ausübte. Beide Wappen sind überhöht von einer Darstellung Marias. Die Arbeiten stammen aus der Zeit um 1589, ebenso wie das Fresko im Innenraum, das Bände spricht über die damaligen Ängste der Leute. Das eindrückliche „Jüngste Gericht“ stammt von Giovanni Battista Tarilli und Domenico Caresano aus Cureglia.
Wo Reben sind, sind Grotti meist nicht weit. Denn der Wein muss ja kühl gelagert werden. In Giornico hat man unter mehreren mächtigen Felsblöcken, die von einem Bergsturz herrühren, prächtige Keller – sogenannte Grotti – angelegt. Ein Themenweg führt von Rodai auf der Südseite des Dorfes zum gleichnamigen Grotto. Auf dieser Route, auf der „carè di grott“, säumen mehrere solcher typischer Tessiner Lokale den Weg. Einige davon sind renoviert, andere verfallen oder werden anders genutzt.
35 Künstler haben ihre Entwürfe eingereicht. Realisiert wurde schliesslich eine Idee des Tessiner Bildhauers Apollonio Pessina, die am 1. August 1937 feierlich enthüllt wurde. Das Denkmal zeigt einen Mann, der einen Felsbrocken ins Rollen bringt, und erinnert an ein militärisches Husarenstück: Am 28. Dezember 1478 besiegte hier eine mit den Urnern verbündete Leventiner Bauernmiliz bestehend aus 600 Mann das 10‘000 Mann starke Mailänder Heer. Trotz der zahlenmässigen Übermacht kam die Niederlage der Lombarden nicht überraschend: Die Soldaten waren vom mühsamen Anmarsch durch Neuschnee, der in der Nacht zuvor gefallen war, ermüdet. Zudem hatten die Leventiner einen Trick auf Lager. Sie liessen Erde, Steine und Felsblöcke von den steilen Talhängen auf die sechs Kilometer lange Kolonne der Mailänder herabstürzen. Daher ging die Schlacht als „Battaglia dei Sassi Grossi“ („Schlacht der grossen Steine“) in die Geschichte ein. In dem Chaos aus Rittern, Pferden und Fuhrwerken waren die Eidgenossen viel beweglicher. Die Mailänder, die in dem wilden Getümmel 1400 Mann verloren, ergriffen die Flucht. Mit dem Friedensvertrag von 1480 verzichteten die Mailänder Herzöge auf die Leventina. Auch daran erinnert das Denkmal.
10) Castellaccio (Caslac)
„Mysteriös“ oder „geheimnisvoll“ sind die Adjektive, die mit der Ruine Caslac am häufigsten in Verbindung gebracht werden. Die bis zu acht Meter hohen Mauern, die teilweise aus riesigen Granitplatten aufgeschichtet wurden, befinden sich auf der rechten Talseite 250 Meter oberhalb von Giornico auf einem Felsvorsprung. Ob es sich um ein römisches Siegesdenkmal oder doch eher um eine prähistorische Wehrsiedlung handelt, ist nicht zweifelsfrei geklärt. Wahrscheinlich hat die Ruine ihren Ursprung im frühen Mittelalter. Aufgrund fehlender datierbarer Funde kann jedoch nur spekuliert werden. In der Tat: mysteriös.
Text: Omar Gisler
Bilder: Helmut Wachter, www.wachter-fotografie.com