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Leonardos verschmähtes Erbe

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Der Treno Gottardo unterwegs in Locarno: Das Bollwerk der Visconti-Burg in Locarno ist das weltweit einzig erhalten gebliebene Bauwerk von Leonardo da Vinci. Doch wegen einer Provinzposse fristet das Erbe des Universalgenies ein Mauerblümchendasein.

Wer einen Leonardo hat, verfügt über eine Lizenz zum Gelddrucken. Kein Künstler generiert mehr Umsatz als der uneheliche Sohn eines Notars und einer Magd, der 1452 im toskanischen Dorf Vinci zur Welt kam. Mit einem Verkaufspreis von 450 Millionen Dollar avancierte sein Salvator Mundi – „Erlöser der Welt“ – im November 2017 zum teuersten Gemälde der Welt. Mit diesem Aushängeschild will das Louvre-Museum in Abu Dhabi dem Original in Paris den Rang ablaufen. In der französischen Hauptstadt stehen jährlich 87 Millionen Menschen Schlange, um einen Blick auf das wohl berühmteste Gemälde der Welt zu erhaschen: Die Mona Lisa. Ähnlich geht es im Kloster Santa Maria delle Grazie in Mailand zu und her, wo Besucher zwölf Euro hinblättern müssen, wollen sie den Cenacolo in Augenschein nehmen, das Abendmahl-Fresko, das in Dan Browns Bestseller Da-Vinci-Code die Hauptrolle spielt.

Kein Wunder also, dass in Locarno viele den grossen Reibach witterten, als sich herausstellte, dass sich in der 16‘000-Einwohner-Stadt am Lago Maggiore das weltweit einzige Gebäude befindet, das von Leonardo da Vinci erbaut wurde. Dank dem Rivellino, dem in die Visconti-Burg integrierten Bollwerk, würde Locarno fortan in einem Atemzug mit Kultur-Hotspots wie Paris, Mailand und Florenz genannt werden, hoffte manch einer. Doch erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. In den Gewölben der von Leonardo konzipierten Wehranlage fanden zuletzt Ausstellungen von Künstlern wie Wang Yigang, Stephan Spicher oder Anthony Chrétien statt – Namen, die davon zeugen, dass Locarno den Sprung auf die Weltbühne verpasst hat. Tatsächlich kommt es einer Provinzposse gleich, was sich um Leonardos Werk in den letzten Jahren abspielte.

Schatz in den Hinterhöfen

Am Anfang standen die grossen Hoffnungen, als die Stadt zu einer einmaligen Attraktion kam wie die Jungfrau zum Kind. Der italienische Historiker Marino Viganò liess die verdutzten Behörden wissen, dass das Bollwerk der Visconti-Burg niemand geringerem als Leonardo da Vinci zuzuordnen war. Über Nacht verlagerte sich das Epizentrum der Stadt von der malerischen Piazza Grande an die Via Franchino Rusca, wo sich TV-Teams aus aller Welt in Stellung brachten, um die sensationelle Neuigkeit mit Bildern illustrieren zu können. Zu sehen gibt es dort … eigentlich nichts, mal abgesehen von einer efeubehangenen Mauer bei der Terrasse der Bar Castello. Es handelt sich um einen bugförmigen Vorsprung des fünfeckigen Bollwerks. Der Rest der Wehranlage ist von Gebäuden umgeben. Leonardos Erbe ist nur über Hinterhöfe zugänglich.

Früher war das natürlich anders. Auf einem Stich aus dem Jahr 1787 kann man erkennen, dass der Rivellino, wie das Bollwerk auf Italienisch heisst, früher mal am Seeufer lag. Doch längst hat der Fluss Maggia so viel Geröll in den Lago Maggiore geschoben, dass sowohl die Piazza Grande als auch die Visconti-Burg mehrere Hundert Meter vom Seeufer entfernt liegen, mitten im urbanen Siedlungsbrei. Daher ist das fünfeckige Bollwerk, dessen heute sichtbare Mauern ungefähr zehn Meter hoch sind, von allen Seiten von Häusern umgeben. Der ehemalige Wassergraben wiederum ist zugeschüttet – heute verläuft dort die Via Rusca.

Die Frage, wie man aus Leonardos Vermächtnis Kapital schlagen könnte, sorgte schon bald einmal für böses Blut. Die Architekturakademie von Mendrisio empfahl, die umliegenden Gebäude niederzureissen, um den Rivellino voll zur Geltung zu bringen. Doch das ist leichter gesagt als getan. Denn Enteignungsverfahren sind in der Regel lang und teuer. Und die Besitzer des Bollwerks, eine Gruppe von Privatpersonen, machen keinerlei Anstalten, ihr Eigentum dem Staat zu verkaufen. Weshalb sollten sie?

Schildbürgerstreiche und vereitelte Pläne

Der Erwerb des Rivellino sei die Grundlage für dessen Aufwertung, beschied die Locarneser Stadtregierung im Juni 2009. Sie wollte das unter Denkmalschutz stehende Bollwerk für 1,3 Millionen Franken sanieren und die ehemalige Verbindung zur Visconti-Burg wiederherstellen. Doch ein Schildbürgerstreich machte dem Politestablishment einen Strich durch die Rechnung. Die Protestpartei Lega dei Ticinesi ergriff das Referendum. Sie argumentierte, dass der Erwerb des Rivellino nicht dringend sei, zumal das Bollwerk nicht davonlaufe. Die Stadt solle vielmehr Personal einstellen, das die Stadt sauber halte. Aus touristischer Sicht sei dies sinnvoller als der Erwerb des Rivellino. Und siehe da! Die Stimmbürger folgten dieser Logik und lehnten den Kauf der spätmittelalterlichen Immobilie im September 2010 an der Urne ab.

Fünf Jahre später wagte der Kanton nochmals einen Versuch, das Bollwerk in staatlichen Besitz zu bringen. Das Kantonsparlament verabschiedete eine Motion, allerdings verbunden mit der Auflage, dass man auf eine Enteignung verzichten und „stattdessen auf den Dialog und andere Formen der Zusammenarbeit mit den Besitzern“ setzen solle. Doch auch das ist leichter beschlossen als getan. Denn die Besitzer brüsten sich, im Rivellino Kunst zu promoten, die den Staat nichts kostet. Dass sie auf die Behörden nicht gut zu sprechen sind, ist nachvollziehbar. Denn schon verschiedene Male vereitelte der Staat ihre Pläne. In den 1990er Jahren wollten sie das mittelalterliche Gemäuer in ein Parkhaus umwandeln. Dagegen legten die Behörden ihr Veto ein. Später wollten die Besitzer das Gewölbe in einen Weinkeller samt Kneipe verwandeln. Das Tessiner Amt für Kulturgüter beauftragte daraufhin den Historiker Marino Viganò, eine Expertise anzufertigen.

Expertise? Die Schlussfolgerungen, die Viganò im November 2003 der Öffentlichkeit präsentierte, stellten eine kulturhistorische Sensation dar. Grund: Er stellte die These auf, dass die als unregelmässiges Fünfeck konzipierte Wehranlage von Leonardo da Vinci höchstpersönlich entworfen worden war. Wie kam der Militärhistoriker auf diese Idee? Die Form und Bauweise habe ihn stutzig gemacht, erklärte Viganò. Denn diese seien für die Region untypisch. „Es ist salopp gesagt etwa so, als ob man in einem römischen Grab eine Rolex-Uhr finden würde. Das passt einfach nicht zusammen.“

Die Spurensuche beginnt

Viganò begab sich deshalb auf Spurensuche, um zu verstehen, wie dieses für damalige Zeiten sehr moderne Bauwerk nach Locarno gekommen war. Einerseits wusste er, dass es vor 1532 gebaut worden sein musste. Denn im Vertrag, mit dem die Eidgenossen das Grundstück samt Wassergraben damals einem gewissen Battista Appiani verkauften, ist die Rede vom Raffelin – also dem Rivellino. Andererseits war undenkbar, dass es bereits in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstanden sein konnte, wie die Historiker bis dahin glaubten. Denn die ersten Bollwerke dieser Art gehen auf das Ende des 15. Jahrhunderts zurück, als Militärarchitekten in Mittelitalien ihre Bauten als Reaktion auf die gesteigerte Feuerkraft der Artillerie weiterentwickelten. Fünfeckige Bastionen lösten damals die gedrungenen runden Türme ab.

Nachdem Viganò die Entstehungsphase des Rivellino auf die Zeit zwischen 1490 und 1532 eingrenzen konnte, war es ein leichtes, den Bauherren zu identifizieren. In Frage kamen entweder die Franzosen, die das Herzogtum Mailand und damit Locarno von 1499 bis 1513 beherrschten, oder die Eidgenossen, denen das Schloss von 1513 bis 1532 gehörte. Doch Letztere waren eher für ihr destruktives denn für konstruktives Wirken bekannt. Da Locarno für sie keine strategische Bedeutung hatte, beschlossen sie 1532, weite Teile der Burg zu schleifen und das Abbruchmaterial – Steine, Holz, Eisen – anderweitig zu verwenden. Erhalten blieb einzig ein Turm mit einem Wohnpalast, der den eidgenössischen Vögten als Residenz diente.

Für Viganò war daher klar, wo er suchen musste: In den Archiven der Lombardei. Und tatsächlich: Er fand rasch Spuren, beispielsweise in Luino. Die Bewohner des Marktfleckens am Lago Maggiore beklagten sich, dass sie vom „Grametter vonn Mayland“ zu Zwangsarbeiten an der Burg von Locarno verpflichtet worden waren. Grametter? Damit war der „Grand Maître“ gemeint, der Statthalter des französischen Königs in Mailand, Charles II. d’Amboise. Dieser verwaltete Mailand von 1502 bis zu seinem Tod im Jahr 1511.

Auch in den Stadtchroniken von Lodi und Como konnte Viganò nachlesen, dass Charles d’Amboise überall im Herzogtum Mailand die Burgen stärker befestigen liess und dabei immer nach demselben Muster vorging: Er liess Häuser niederreissen und verpflichtete Leute aus der Gegend zu Zwangsarbeit und zur Lieferung von Baumaterialien. Durch das Abreissen der Häuser wurde jeweils der Platz vor den Burgen vergrössert, so dass die Verteidiger fortan freie Schussbahn hatten. Den Angreifern fehlte überdies eine mögliche Deckung für ihre Geschütze. Das Bollwerk von Locarno beispielsweise konnte einen Winkel von 270 Grad abdecken und somit das Castello Visconteo vom Haupttor bis zum unbefestigten Hafen schützen.

Diese Arbeiten wurden im Sommer 1507 in grosser Hektik durchgeführt. Denn die Franzosen fürchteten, Kaiser Maximilian plane mit Hilfe der Eidgenossen einen Einfall in der Lombardei. Locarno war der am stärksten exponierte Grenzposten des Herzogtums Mailand, nachdem Bellinzona mit seinen drei Burgen im Jahre 1503 kampflos an die Eidgenossen gefallen war. Deshalb erstaunt es nicht, dass Charles d’Amboise im Juli 1507 die Befestigungsanlagen im Tessin in Augenschein nahm. Man kann somit davon ausgehen, dass er den Bau des Rivellino anordnete. Doch wer war der Ingenieur, der in den südlichen Voralpen in einer Art baute, die sich damals erst in Mittelitalien standardisiert hatte? Die Vermutung, dass es sich um Leonardo da Vinci gehandelt haben könnte, ist nicht ganz neu. Schon 1894 hatte der Kunsthistoriker Johann Rudolf Rahn die Ähnlichkeit zwischen den Bollwerken des Castello Visconteo in Locarno und des Castello Sforzesco in Mailand festgestellt.

Die Sensation als plausible Schlussfolgerung

Bereits 1487 hatte Leonardo dem Herzog Lodovico Sforza vorgeschlagen, das Castello Sforzesco mit einem Bollwerk besser zu schützen. 1494 fertigte er einen weiteren Entwurf an, den die Franzosen als neue Herren über Mailand verwirklichen liessen. Im Januar 1500 waren die beiden Bollwerke, von denen heute nur noch Grundmauern existieren, fertig. In den folgenden Jahren war Leonardo in Italien für verschiedene Herren als Militärarchitekt tätig. 1506 holte ihn Charles d’Amboise nach Mailand zurück und ernannte ihn zum „paintre et ingénieur ordinaire“.

Für Viganò liegt es deshalb auf der Hand, dass Leonardo das Bollwerk von Locarno entworfen hat. Den Einwand, dass die Wehranlage von einem Gehilfen oder Schüler da Vincis gebaut worden sein könnte, kontert er mit einer rhetorischen Frage: „Weshalb gibt es dann im ganzen Herzogtum Mailand kein anderes Bauwerk von diesem Baumeister?“ Aus seinen Erkenntnissen könne er nur die Schlussfolgerung ziehen, dass es Leonardo selber war. Denn für das Jahr 1507 sei in dieser Gegend kein anderer Ingenieur zu finden, der dazu fähig gewesen wäre. Beweise für seine These kann Viganò zwar keine vorlegen. Doch seine Recherchen werden von sämtlichen Experten als plausibel eingestuft.

Somit verfügt Locarno mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit über das weltweit einzige erhalten gebliebene Bauwerk von Leonardo da Vinci. Dass aus einem Leonardo kein Kapital geschlagen wird, ist ebenfalls einmalig.

Text: Omar Gisler
Bilder: Helmut Wachter, www.wachter-fotografie.com

ZWISCHENHALT: Vom Bahnhof Locarno zu Fuss zum Rivellino und zurück, je 1 Kilometer, 15 Minuten. Leonardos Bollwerk befindet sich an der Via al Castello 1 in Locarno. Besichtigen kann man es über die LdV Art Gallery, die auf ihrer Webseite auch einen virtuellen Rundgang anbietet.

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