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Vom Tsunami im Tessin zu den schönsten Grotti

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Mit dem Treno Gottardo unterwegs zwischen Bodio und Biasca: Die „Buzza di Biasca“ forderte Hunderte von Todesopfern und verwüstete das ganze obere Tessin. War bei dieser Naturkatastrophe Hexerei im Spiel? Nein, befanden die eidgenössischen Richter.

Am 30. September 1513 fiel den Einwohnern von Biasca der Himmel auf den Kopf – zumindest musste es sich so anfühlen. Von der Westflanke des 2329 Meter hohen Pizzo Magno löste sich eine gigantische Felsmasse. Tonnen von Stein und Geröll donnerten ins Tal hinunter und begruben zahlreiche Häuser unter sich. Gestoppt wurde die Gerölllawine erst von der Felswand an der gegenüberliegenden Talseite. Ein über sechzig Meter hoher Damm aus Felsbrocken und Geröll versperrte fortan den Eingang zum Blenio-Tal bei „Ablentschen“, wie Biasca damals von den Eidgenossen genannt wurde. Damit nahm das Unheil seinen Lauf.

Durch die Geröllhalde wurde der Fluss Brenno gestaut. Die Dörfer Malvaglia, Semione und Loderio versanken in den Fluten des Stausees. War der Felssturz bis dato eine Tragödie für das Blenio-Tal, so avancierte er am 20. Mai 1515 zu einer der grössten Katastrophen in der Schweizer Geschichte. An jenem Tag gab der Damm dem Druck der Wassermassen völlig unerwartet nach. Mehrere Flutwellen wälzten sich über Biasca und die Riviera nach Bellinzona und von dort in den Lago Maggiore. Sie brachten Tod und Zerstörung. Je nach Quelle kamen bei diesem Tsunami zwischen 200 und 600 Menschen ums Leben.

Weitreichende Folgen

Eindrücklich zeigte sich die Wucht der Wassermassen in Bellinzona. Dort hatten die Mailänder Herzöge nicht nur drei Burgen errichtet, sondern auch eine vier Meter dicke Mauer, die den gesamten Talboden abriegelte – inklusive einer befestigten Brücke über den Fluss Ticino. Etwas mehr als einen Augenblick lang hielten die Murata und die Torretta-Brücke dem Druck der Fluten stand, ehe sie barsten. Diese kurzzeitige Verstopfung führte dazu, dass sich das Wasser an dem Hindernis staute und Bellinzona überflutete.

Die Wassermassen drangen „bis uf den Platz in all Keller und all Stuben“, schrieb Rudolf Senser, der als eidgenössischer Abgesandter in Mailand auf dem Rückweg in die Innerschweiz war, als er in Bellinzona von der Flutwelle überrascht wurde. Allein in Bellinzona wurden über hundert Todesopfer beklagt, darunter zwanzig eidgenössische Soldaten. Darüber hinaus zerstörte die Flutwelle rund vierhundert Gebäude, „dass weder Stein noch Holz beliben sind“. Senser war vom Ausmass der Katastrophe derart geschockt, dass er um die richtigen Worte rang: „… dann es ist unglaublich, wer es nit gesicht!“

Unter den Folgen der „Buzza di Biasca“, wie die Katastrophe genannt wurde (der Ausdruck „Buzza“ bezeichnet im lombardischen Dialekt das bei Hochwasser angeschwemmte Material), hatten noch zahlreiche Generationen zu leiden. Am schwerwiegendsten wirkte sich die Zerstörung der Torretta-Brücke über den Ticino aus. Dadurch geriet die Stadt Locarno ins wirtschaftliche Abseits. Denn der Handel über den Lago Maggiore wurde fortan notgedrungen über Magadino auf der linken Talflanke abgewickelt. Für Locarno, so der Tessiner Historiker Eligio Pometta, „hatte die Katastrophe wirtschaftliche Folgen, die Jahrhunderte dauerten“. Denn erst 1813, als das Tessin keine ennetbirgische Vogtei, sondern ein unabhängiger Kanton war, entschloss sich der Grosse Rat zum Wiederaufbau der Brücke bei Bellinzona.

Gerüchte und Verschwörungstheorien

Aufgrund der weitreichenden Folgen erstaunt es nicht, dass bald böse Gerüchte über die Ursache der Katastrophe die Runde machten. Gott habe die Leute von Biasca mit dem Felssturz bestraft, weil diese der Sodomie gefrönt hätten, wurde gemunkelt. Doch der Volkszorn richtete sich vorab gegen die Bewohner des Blenio-Tals. Diese hätten einen Hexer damit beauftragt, sie vom Stausee zu befreien, lautete eine Verschwörungstheorie. Genährt wurde diese durch den Umstand, dass die Bleniesi am 22. April 1515 bei einer Versammlung auf dem Friedhof beschlossen hatten, einem gewissen Giovannino Balestrerio aus Mailand das Mandat zu erteilen, das Wasser aus dem See abfliessen zu lassen. Doch noch ehe der Hydraulik-Experte den Weg ins Tal fand, barst der Damm. Kein Wunder also, dachte manch einer, dass sich die Blenieser des Stausees durch einen Zauber entledigt hätten – auf Kosten der flussabwärts lebenden Bevölkerung.

Zwei Jahre später kam es deswegen in Bellinzona zu einem Prozess. Als Kläger trat die Kommune Biasca auf, die der Gemeinde Malvaglia vorwarf, der Riviera durch Hexerei Schaden zugefügt zu haben. Am 3. Juni 1517 hörten sich die eidgenössischen Richter aus Uri, Schwyz und Unterwalden den Sachverhalt an. Sie schenkten schliesslich der Version der Blenieser Glauben, die beteuerten, dass sie den See mittels „arte mechanica et non arte magica“, also mittels mechanischer und nicht magischer Kunst, hätten abfliessen lassen wollen. Die Bewohner des Blenio-Tals wurden vom Vorwurf der Hexerei und schwarzen Magie freigesprochen. Zweifel und Misstrauen blieben jedoch noch lange bestehen – ebenso wie der imposante Schuttkegel am Eingang des Blenio-Tals, der heute noch gut sichtbar ist.

ZWISCHENHALT: Vom Banhof Bodio zur Via dei Grotti und wieder zurück 1.5 Kilometer, 50 Höhenmeter, 30 Minuten. 

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