Geschichte

Bahnhöfe im Spiegel der Zeit

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Dass hinter den uns heute vertrauten Bahnhofsanlagen wechselvolle Geschichten stecken, kann als Gemeinplatz hingenommen werden. Dennoch dürften Dynamik, Vielfalt und Komplexität der jeweiligen Rahmenbedingungen und Ansprüche überraschen.

St.Gallen, Herisau und Wattwil. Die drei Bahnhöfe im SOB-Ostnetz haben die Ortsentwicklung der Dörfer geprägt. Welche Zukunftsaussichten und Erwartungen steckten einst hinter diesen für die Siedlungsentwicklung prägenden Infrastrukturbauten? Um 1900 faszinierten die sich durch Wissenschaft und Technik abzeichnenden, unbegrenzt erscheinenden Möglichkeiten ebenso wie die prosperierende Wirtschaft. In diese Zeit des Aufbruchs und der Textilblüte fielen sowohl erste Kraftwerkbauten als auch die Verdichtung des Eisenbahnnetzes, der Bau von Strassenbahnen, durchgreifende Flusskorrektionen und die Erschliessung neuer Wasserwege. Schlagworte wie Ostalpenbahn oder Hochrheinschifffahrt machten die Runde und beflügelten unternehmerische Visionen. Die bedeutende Vision des Degersheimer Fabrikanten Isidor Grauer-Frey lautete einst St.Gallen-Zug und sollte der für die Wirtschaft essenziellen Verkehrsachse Ostschweiz–Italien dienen. Realisiert wurde durch die Bodensee-Toggenburg- (BT) und Rickenbahn «nur» der Abschnitt zwischen St.Gallen und dem Linthgebiet – der auch heute noch konkurrenzlos schnellsten Verkehrsverbindung zwischen Uznach und der Kantonshauptstadt

Von damals bis heute

Die Verkehrsentwicklung ging weiter, nahm aber ursprünglich unvorstellbare Wendungen. Eine Zäsur, die alle Annahmen zur Wirtschaftsentwicklung Makulatur werden liess, war der Erste Weltkrieg. Der darauf folgende Mangel an Kohle zwang zur Bahnelektrifikation und der Siegeszug des Strassenverkehrs nahm seinen Anfang. Die Bahn verlor das Monopol im Güter- und sogar im Personenverkehr. Im Bahnreiseverkehr verabschiedete sich die einst dominante privilegierte wie auch wohlhabende Klientel – die Reise mit der Bahn wurde zur Errungenschaft für alle. Im Fahrplan tauchte da und dort die Kategorie «Arbeiterzug» auf und 1956 verschwand das Dreiklassensystem. Aus der zweiten und dritten Klasse wurden die erste und die zweite Komfortklasse. Heute geniessen wir ein Verkehrssystem, das sich als «S-Bahn Schweiz» umschreiben lässt und vergleichsweise preiswert ist. Der Bahngüterverkehr hat in den vergangenen Jahrzehnten einen bedauernswerten Niedergang erfahren, indem der Stückgüterverkehr ganz verschwunden ist und der Wagenladungsverkehr eher ein Schattendasein fristet. Dieser Wandel hatte unübersehbare Auswirkungen auf die Bahnhofsareale und die Ortsentwicklungen. So entstanden beispielsweise attraktive Wohn- und Gewerbebauten oder erweiterte Busstationen sowie Parkplätze für den Individualverkehr in Bahnhofsnähe

Brennpunkt Stadt St. Gallen

Der Verkehrsknoten St.Gallen musste um 1910 für die Einbindung der Bodensee-Toggenburg-Bahn und den längst überfälligen Doppelspurausbau der Ost-West-Achse ertüchtigt werden. Die Hochrheinschifffahrt versprach zudem für St.Gallen beträchtliche Gütermengen via Romanshorn. Die weitgehend offen geführte SBB-Einspur durch die Stadt taugte nicht mehr. Die Einführung der Bahnlinien der Bodensee-Toggenburg-Bahn Richtung Herisau und Romanshorn sowie der doppelspurige Rosenbergtunnel und neue, grosszügige Publikumsanlagen von Bahn und Post veränderten das Stadtbild des Handelsplatzes St.Gallen durchgreifend.

Verschwunden bzw. umgenutzt sind inzwischen Teile der technischen Bahninfrastruktur. Aus der markanten Remise wurde ein Brennpunkt der Kultur. Bildungseinrichtungen, Kantonsbibliothek sowie Bus und die Appenzeller Bahnen (AB) prägen heute das Bahnhofsareal mit. Die eindrückliche Architektur der 1910er-Jahre ist geblieben.

Brennpunkt Herisau

Im Ausserrhoder Hauptort Herisau wurde im Lauf der 1870er-Jahre konsequent für die betrieblich unsinnige Bahnhofslage in Kundennähe gekämpft. Ein Bahnhof mitten im Dorf und nahe bei der zahlungskräftigen Klientel – nur erreichbar über eine Spitzkehre – war das Ergebnis. Topografisch ist die Ortschaft komplex strukturiert und geprägt durch drei Talmulden sowie durch beträchtliche Höhenunterschiede. Mit dem Bau der Bodensee-Toggenburg-Bahn wurden die Karten in mehrfacher Hinsicht bald wieder neu gemischt. Etwas abseits des Dorfzentrums erfolgte der Neubau des AB-/BT-Gemeinschaftsbahnhofs Herisau und die Neuorientierung der meterspurigen Appenzeller Bahnen Richtung Gossau. Die ursprüngliche Bahnlinie nach Winkeln, die Wechselstation und der zentrumsnahe Sackbahnhof wurden damit überflüssig. Ein neues, industriell geprägtes Ortsbild entstand durch den Eisenbahnbau und die nahegelegene prosperierende Textilindustrie im Herisauer Glatttal. In Herisau waren anspruchsvolle bautechnische und bahnbetriebliche Planungen angesagt und umzusetzen.

Aus dem ursprünglichen Gemeinschaftsbahnhof, Zentrum des Bahngüterverkehrs und Depotstandort, entsteht derzeit eine leistungsfähige öV-Drehscheibe für Bahn und Bus mit vielfältigem Entwicklungspotenzial für die Wirtschaft.

Brennpunkt Wattwil

Die aus wasserbautechnischer Sicht erforderliche Thurkorrektion im Toggenburger Ort Wattwil schuf im Zusammenhang mit dem neuen Eisenbahnknoten der Bahnlinien Wil–Ebnat (vormals Toggenburgerbahn), der Bodensee-Toggenburg-Bahn und der Rickenbahn völlig neue Verhältnisse im Talboden. Der kleine Bahnhof Wattwil im Ortsteil Ennetbrugg, eingezwängt zwischen Thur und linksseitiger Bergflanke, fand Ersatz durch grosszügige Gleisanlagen, die mit ausreichend Platz für die heutigen Ansprüche der Knoten- bzw. Fahrplanspinnen-Funktion genügen. Zu guter Letzt wurde die Thur bewusst nicht begradigt, sondern in einen geschwungenen Lauf mit ausgeglichen konstantem Gefälle gelegt. Eisenbahn- und Wasserbau gingen damals Hand in Hand über die Bühne – und schufen Potenziale für die Ortsentwicklung.

Als unmittelbare Folge des Bahnbaus und der Thurkorrektion entstanden vorerst neue Industrieareale und das Gaswerk. Dem Bahnhof fiel zudem die Verbindungsfunktion zwischen den Ortsteilen Ennetbrugg und Wattwil zu. Heute dominieren Geschäfte, Bildungseinrichtungen und zeitgemässer Wohnraum die nähere Umgebung der Toggenburger öV-Drehscheibe. Lokale sowie wirtschafts- und staatspolitische Interessen konnten um 1900 sehr geschickt und langfristig wirksam gebündelt werden.

Das Ostnetz der heutigen SOB entstand in weniger als zehn Jahren Projekt- und Bauarbeit, was heute mit grossem Staunen zur Kenntnis genommen werden dürfte. Die einstige Bodensee-Toggenburg-Bahn überzeugt noch immer durch die harmonisch in die Landschaft eingefügte und betrieblich optimale Linienführung, weitgehend frei von Niveauübergängen. Zudem verdient die Pionierleistung der damals bewusst den lokalen Gegebenheiten angepassten Architektur zwischen Romanshorn und Wattwil besondere Beachtung.

Text: Anton Heer
Bilder: Anton Heer, Stadtarchiv St. Gallen, ETHZ, swisstopo

Zum Autor Anton Heer

Anton Heer, geboren 1951, ist pensionierter Elektroingenieur.

Der Einstieg in die Verkehrs- und Technikgeschichte erfolgte durch die enge Beziehung zur Bahn als Reisender, zur Region Rheintal und zufallsbedingt zum Rheinbauwesen. Das Forschungsgebiet Region Ostschweiz erwies sich dabei als äusserst vielfältig und spannend. Gegenwärtig liegen die Schwerpunkte seiner Recherchen im Gebiet der Verkehrs- und Industriegeschichte bzw. der Bilderschliessung zugunsten des Staatsarchivs St.Gallen und der ETH Zürich.

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