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Mit Schiff und Zug zum Märchenschloss auf dem Rütli

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Hätte Bayernkönig Ludwig II. seinen Traum verwirklichen dürfen, dann stünde Schloss Neuschwanstein heute auf dem Rütli. Stattdessen hinterliess der «Märchenkönig» bloss eine Schwanenkaraffe aus Kristallglas.

«Ein ewig Rätsel will ich bleiben mir und den anderen», nahm sich König Ludwig II. von Bayern vor. Tatsächlich schüttelten die Innerschweizer ungläubig die Köpfe über die Macken des Wittelsbachers, der 1865 seine erste von insgesamt drei Reisen an den Vierwaldstättersee unternahm. Er war fasziniert von Schillers Epos «Wilhelm Tell» und machte sich mit dem Buch in den Händen auf die «Suche nach den Schweizer Helden». Mithilfe seines Freundes, des jungen Schauspielers Josef Kainz, wollte er die Abenteuer Tells in der Landschaft des Vierwaldstättersees auf authentische Art und Weise nachempfinden.

Vor allem bei seinem dritten Aufenthalt in Brunnen, im Sommer 1881, ging der 41 Jahre alte Regent mit dem Tell-Spleen den Einheimischen gehörig auf den Keks. Zunächst residierte er kurz im Hotel Axenstein in Morschach, das er als Schloss erwartet hatte, sodass er schliesslich in die Villa Gutenberg des Verlegers Adelrich Benziger in Brunnen umzog. Für die Dauer seines Aufenthalts mietete er für horrende 600 Franken pro Tag das Dampfschiff «Waldstätte», das stets abfahrtsbereit mit aufgeheizten Kesseln im Hafen zu warten hatte, und befuhr damit den See kreuz und quer, mit Vorliebe nachts, bei Mondschein. Unter dem Sternenhimmel lauschte er Schillers Versen, die Kainz rezitierte. Dazu liess Ludwig Alphörner sowie Jagd- und Posthörner aufspielen, was die international angereisten Kurgäste in den Hotels am Seeufer in Brunnen um den Schlaf brachte.

Apropos Nachtruhe: Nannette Fassbind, die Wirtin des Gasthauses Rössli am Dorfplatz in Brunnen, liess der König einmal nachts um drei von einem reitenden Boten aus dem Schlaf wecken. Des Boten Begehr: Apfelkuchen! Denn der hausgemachte Apfelkuchen hatte dem König aus Bayern bei einem vorigen Besuch des «Rössli» vorzüglich gemundet. Er wollte eine Zugabe. So bizarr Ludwigs Wünsche waren, so grosszügig zeigte er sich, wenn diese erfüllt wurden. So hinterliess er der Wirtin zum Dank eine Schwanenkaraffe aus Kristallglas mit verziertem Henkel aus Ausguss. Joseph Arnold wiederum, der Wirt des Hotels zum Schwarzen Löwen in Altdorf, erhielt für eine Auskunft eine goldene Krawattennadel mit Schmelzeinlagen in den bayrischen Landesfarben. Ludwig hatte sich bei ihm erkundigt, ob der Surenenpass auch mit Kutsche befahrbar sei. Davon wurde ihm entschieden abgeraten. Stattdessen besuchte der Monarch mehrmals von Brunnen aus das Rütli. Dem Pächter des Rütli, Michael Aschwanden, schenkte er ein silbernes Trinkhorn als Dank für stundenlange Gespräche über die Alpwirtschaft und Viehzucht und über die sozialen Errungenschaften des Schweizer Staatswesens.

Fan und Gegner der Demokratie

Seit 1865, als er zum ersten Mal in Brunnen weilte, war der «Märchenkönig» ein Fan der Schweiz. Er verehrte die Eidgenossenschaft als das «Paradies der Länder, die Gott lieb hat wie den Apfel seines Auges. Kein Pathos war ihm zu peinlich, keine Schwülstigkeit zu viel, wenn es um die «Landschaft des Tell» ging, wie er die Innerschweiz nannte. Das war schon damals ein Widerspruch: Er, der Autokrat, der Alleinherrscher, der zeit seines Lebens mit der Demokratie und den Einmischungen des Volks in seine Regierungstätigkeit haderte, vergötterte die autonome Volksherrschaft am Vierwaldstättersee. In Bayern hasste er die Liberalen und deren Volksnähe; in der Eidgenossenschaft schwärmte von der «Hirtendemokratie».

Die Sympathie beruhte auf Gegenseitigkeit. Es ist nicht übertrieben, wenn man, um den Urner Schriftsteller Karl Iten zu zitieren, von einer «tiefen Sehnsucht der Hirten nach einem König» spricht. 1866 gab es beispielsweise im Kanton Uri ein Siebengeschlechtsbegehren, etwa vergleichbar mit einer heutigen Volksinitiative, mit welcher einige Urner König Ludwig II. zum Ehrenbürger des Kantons Uri machen wollten. «In Anerkennung seiner wahrhaft edlen Gesinnung gegen die Urschweiz und seiner tatsächlich bewiesenen besonderen Verehrung unseres Freiheitsgründers Wilhelm Tell», hiess es im Antrag. Zu einer Abstimmung an der Landsgemeinde kam es jedoch nie, denn der Bundesrat pochte auf die Verfassung von 1848: «Ausländern darf kein Kanton das Bürgerrecht erteilen, wenn sie nicht aus dem früheren Staatsbunde entlassen wurden.» Doch ein Bayernkönig, der auf das Bürgerrecht seines Landes verzichtete, war undenkbar, sodass die Urner das Volksbegehren nach der Intervention aus Bern zurückzogen.

Luftschlösser und Riesenstatuen

Begraben musste Ludwig II. auch seinen Plan, das Rütli zu kaufen, um dort ein Schloss zu bauen. Denn die Rütliwiese war seit 1860 Nationaleigentum der Schweizerischen Eidgenossenschaft und daher unverkäuflich. Wäre er zehn Jahre früher gekommen, stünde dort heute vielleicht eines seiner Märchenschlösser – Schloss Neuschwanstein am Urnersee, welche Attraktion! Stattdessen baute Ludwig sein Traumschloss oberhalb von Hohenschwangau bei Füssen im bayerischen Allgäu, wo es längst als Sehenswürdigkeit Nummer eins in Deutschland gilt und mehr als 1,5 Millionen Besucher pro Jahr anlockt.

Eine bemerkenswerte Vision hatte Ludwig auch für die Tellsplatte, deren märchenhafte Geschichte ihm ebenso gefiel wie die des Rütlis. Ihm schwebte der Bau einer riesenhaften Statue Wilhelm Tells vor, so gross, dass zwischen den Beinen Dampfschiffe hätten hindurchfahren können. Doch diese Idee zerschlug sich ebenso wie der Kauf des Hotels Tell in Bürglen. Die Verhandlungen mit Wirt Franz Epp waren bereits weit gediehen, als das plötzlich trübe Herbstwetter den Monarchen aus der Schweiz vertrieb. Der Kauf platzte, aber wenigstens hatte Ludwig einige Landschaftsbilder des Urnerlandes im Gepäck, gemalt von Jost Anton Muheim, als er die Schweiz verliess.

König Ludwig II. Otto Friedrich Wilhelm von Wittelsbach, wie er mit vollem Namen hiess, ertrank am 13. Juni 1886 unter mysteriösen Umständen im Starnbergersee, nachdem er kurz zuvor entmündigt worden war. Sein Tod war wie sein Leben: voller Rätsel.

Text: Omar Gisler
Bilder: Helmut Wachter

ZWISCHENHALT: Von Bahnhof  Brunnen zum Schiffsteg: 1 Kilometer, 15 Minuten - per Schiff aufs Rütli und wieder zurück in je 30 Minuten.

Mit dem Schiff zum Rütli
Von Brunnen aus gelangt man mit dem Schiff aufs Rütli am gegenüberliegenden Seeufer.

Königliches Souvenir
An den Besuch König Ludwigs II. erinnert am Vierwaldstättersee nicht mehr viel. Das Trinkhorn, das er dem Rütli-Wirt schenkte, kann man im Rütlihaus bestaunen.

Apfelkuchen probieren
Das Gasthaus «Weisses Rössli» in Brunnen serviert zum Dessert immer noch hausgemachte Apfelküchlein – bis um 22 Uhr.

Ein Märchenschloss auf dem Rütli

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