Mit dem Treno Gottardo unterwegs zwischen Faido und Lavorgo: Auf der Strada Alta kommt man nur im Schritttempo voran. Dafür wandert man durch Dörfer, deren Namen wie Musik klingen. Kein Wunder, inspirierte diese Route die Folklore-Tessinerin Nella Martinetti zu einem Schlager der Volksmusik.
Hat man den Gotthard einmal hinter sich gelassen, „dann geht es geographisch bergab und innerlich bergauf“, brachte der Allgäuer Schriftsteller Gerhard Köpf die Sehnsucht nach dem Süden auf den Punkt. Das war in den 1980er-Jahren, als die Eröffnung der Autobahn die Reisezeiten schrumpfen liess. Die Leventina verkam damit endgültig zum Transitkorridor, wo man auf dem Weg an den Lago Maggiore oder an mediterrane Gestade allenfalls noch einen Halt einlegt, um den Benzintank aufzufüllen. Paradoxerweise erhielt gerade in jenen Jahren die Philosophie der Entschleunigung Auftrieb. Die Höhenwanderung auf der Strada Alta avancierte zum Schweizer Wanderklassiker schlechthin, besungen von der Tessiner Entertainerin Nella Martinetti: „Mit Dir, Strada Alta, atmet man die Freude des Lebens.“
Madrano, Brugnasco, Altanca, Ronco, Deggio, Lurengo, Freggio, Osco, Mairengo, Anzonico, Calpiogna, Sobrio ... Die Namen der Dörfer entlang der Strada Alta haben einen fröhlichen, heiteren Klang, man spürt bei der Aussprache förmlich, dass sie allesamt auf der östlichen, sonnigen Seite der Leventina liegen, hoch über dem geschäftigen Talgrund mit Bahn und Strassen. Hier oben gilt die Devise: Slow down. Die 45 Kilometer zwischen Airolo und Biasca kann man in drei bequeme Tagesrouten unterteilen. „Manche Abschnitte verlaufen auf Hartbelag, andere muten wild und atemberaubend an“, schreibt der Wanderblogger Thomas Widmer, der zum Fazit kommt: „Als Ganzes stimmt die Dramaturgie.“
Der erste Akt beginnt in Airolo, 1140 Meter über Meer. Zum Start gehört eine Stärkung mit Caffè mit Brioche. Die Bar Piazzetta des Hotel Motta bietet sich dafür an, schliesslich entstammt der Familie mit Giuseppe Motta sogar ein Bundesrat. Derart verköstigt geht es Richtung Valle. Auf dem alten Saumweg quert man das Tobel des Val Canaria. Bald darauf gelangt man nach Madrano. Bei Brugnasco hat man schon etwas an Höhe gewonnen. Unter den Gleisen der Ritom-Bahn hindurch führt der Weg nach Altanca. Blickt man von diesem Weiler mit seinen sonnenverbrannten Holzhäusern nach unten auf die Autobahn im Tal, kommt man nicht um die Feststellung umhin: Arme Automobilisten, euch entgeht das Wesentliche.
Wildromantischer Abschluss
Rund fünf Stunden, je nach Schritttempo, hat man in den Füssen, wenn man in Osco angekommen ist, dem Ziel der ersten Etappe. Wer vor Ort keine Übernachtungsmöglichkeit findet (das Bettenangebot des Ristorante Marti und der Osteria Salzi ist beschränkt), der nimmt das Postauto und fährt nach Faido hinunter, wo die Chancen in der Regel gut stehen, ein freies Zimmer zu ergattern. Mit der ersten Morgenpost kann man dann die am Vortag unterbrochene Wanderung wiederaufnehmen. Für Frohnatur Nella Martinetti war die Rückkehr aufs Hochplateau stets mit sehr vielen Emotionen verbunden: „Jedes Mal, wenn ich wieder hochkehre, verliebe ich mich in Dich, Strada Alta.“
Der weitere Streckenverlauf bietet „ein Karussell von tausend Farben“, um den Liedtext von Martinetti zu zitieren, „Wiesen, Bergbäche, Blumen, Wasserfälle und alten Kirchen“ säumen den Wegesrand. Tatsächlich weisen die Campanili wie Leuchttürme den Weg Richtung Rom. Von weit her sichtbar ist beispielsweise das weissgekalkte Kirchlein San Martino ausserhalb von Calonico, das hoch auf einem markanten Felsenvorsprung über dem Abgrund thront und im Jahr 1200 erstmals erwähnt wurde.