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Mit dem Traverso in die wunderschöne Bergwelt zum einsamen Rotkäppchen

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Wie ein einsamer Findling hockt der Grosse Mythen mit seiner rötlichen Spitze im voralpinen Gebirge. Erstmals bestiegen wurde der Schwyzer Hausberg von einem Desperado.

„An diesen ungeheuren unregelmässigen Naturpyramiden stiegen Wolken nach Wolken hinauf“, schrieb Johann Wolfgang von Goethe über die beiden Schwyzer Hausberge, die er auf seinen Schweiz-Reisen 1775 und 1797 zu Gesicht bekam. Friedrich Hölderlin, der damals ebenfalls durch die Innerschweiz wanderte, war überzeugt, dort das irdische Paradies gefunden zu haben. Das arkadische Tal am Fusse des Kleinen und Grossen Mythen sei die „Quelle der Freiheit“ und der Berg selbst ihr Schutzwall, notierte er 1793. Diese Schilderungen inspirierten wiederum Friedrich Schiller, der die Gegend nie selbst besucht hatte. In der Einstiegsszene seines 1804 uraufgeführten Dramas „Wilhelm Tell“ schildert er die Erhabenheit der beiden Gipfel, die Land und Leute prägen. Was Schiller in Worte fasste, verewigte der Genfer Landschaftsmaler Charles Giron im Fresko „Die Wiege der Eidgenossenschaft“. Das fünf auf zwölf Meter grosse Gemälde mit den beiden Mythen im Zentrum schmückt seit 1902 den Nationalratssaal.

Felseninseln in der Eislandschaft

Vierwaldstättersee, Rütliwiese, Mythen – sie gelten als das unverrückbare Fundament der Eidgenossenschaft! Unverrückbar? Zumindest im Fall der beiden Mythen stimmt das nicht ganz. Denn ihr Entstehungsort ist nicht identisch mit ihrer heutigen Lage. Die Gesteine entstanden in einem Teil des Ur-Mittelmeeres und wurden von dort beim Aufbau der Alpen durch den faltenartigen Zusammenschub des Ozeanbodens fast 150 Kilometer nordwärts gedrängt. Im Verlauf der Hebung der Alpen haben Wasser und Eis das Relief herausgearbeitet, höhere Decken zerstört und abgetragen und nur noch Relikte – die heutigen Felspyramiden – zurückgelassen. Schliesslich formten während der letzten zwei Millionen Jahre Gletscher die Landschaft. In der letzten Kaltzeit (etwa 70'000 Jahre v. Chr.) bedeckte der vereinte Reuss-Muota-Gletscher den Talkessel. Im Raum Schwyz erreichte der Eispanzer eine Höhe von rund 800 Metern. Die Mythen ragten als Felseninsel aus dem Eis heraus.

Herausragend ist die rote Kalksteinspitze des 1898 Meter hohen Grossen Mythen heute noch. Daher auch ihr Name. Der Schwyzer Namenforscher Viktor Weibel führt ihn auf das lateinische Wort „meta“ zurück, das so viel wie „etwas Aufragendes“ bedeutet. Um 1790 dürfte „de Grooss Mythä“, wie ihn die Einheimischen nennen, erstmals bestiegen worden sein. Der Sage nach von einem zum Tode Verurteilten, der auf den Gipfel hinauf- und wieder hinunterstieg, um damit, sozusagen als Gottesurteil, seine Unschuld zu beweisen. Fakt ist, dass die Erschliessung des Grossen Mythen in die Pionierzeit des Bergtourismus fiel. Am 14. November 1863 wurde im Hotel Hediger in Schwyz die Mythen-Gesellschaft gegründet. Laut Protokoll beschlossen die 25 Gründerväter, „einen möglichst bequemen Weg auf den Grossen Mythen zu erstellen, ein Gasthaus an geeigneter Stelle auf dem Berge zu bauen und nach Möglichkeit dahin zu wirken, dass dieser Berg von Einheimischen und Fremden bestiegen wird“.

Alle drei Ziele wurden rasch erreicht. Bereits im darauffolgenden Jahr legte der Gersauer Unternehmer Domenico Taddei einen vier Fuss breiten und 2400 Meter langen Weg mit einer Maximalsteigung von 35 Prozent an. Kostenpunkt: 3500 Franken. So gelangte man sogar mit Saumtieren hoch zur Hütte, die man auf dem Gipfel errichtet hatte. Ungefährlich ist die Tour trotzdem nicht, wie sich bei der Eröffnungsfeier zeigte: Hauptmann Valentin Castell stürzte zu Tode, als er beim Abstieg seinen Kameraden nacheilte. Fünfzehn Todesfälle listet die Chronik des Vereins der Mythenfreunde bis 1981 auf. In jenem Jahr beschloss man aus Sicherheitsgründen eine neue Routenführung an der abschüssigen Totenplangg.

47 Kehren zum Gipfelrestaurant

Ein weiterer Meilenstein in der Vereinschronik bildete das Jahr 1991, als man sich anlässlich der 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft mit einem neuen Gipfelhaus beschenkte. Das Restaurant wird seit 1967 per Helikopter versorgt, während zuvor Träger und Saumtiere sowie kurzzeitig eine Transportseilbahn zum Einsatz kamen. Der Bau einer Seilbahn auf den Gipfel wurde zwar immer wieder diskutiert, aber ebenso rasch wieder verworfen. „Auf gar keinen Fall wollen wir eine Mechanisierung auf den Mythen. Keine Bahnen, rein gar nichts. Der Mythen soll Mythen bleiben. So wie er sich heute präsentiert“, betonte Hans Reichmuth, der Präsident der Mythenfreunde, anlässlich des 150-Jahr-Jubiläums der Vereinigung 2013.

Obwohl – oder gerade weil – nur zu Fuss erreichbar, ist der Grosse Mythen mit seiner einzigartigen Aussicht zu einem beliebten Ausflugsziel avanciert. An Spitzentagen wird der Weg von bis zu 2000 Personen beschritten. Anderthalb Stunden dauert der Aufstieg durch die fast senkrechte Fluh, die in 47 Kehren überwunden wird. Oben angekommen, geben sich Einheimische und Auswärtige in der Bergbeiz die Klinke in die Hand. Am Stammtisch darf jedoch nicht jede x-beliebige Person Platz nehmen. Er ist für den Hunderterclub reserviert. Mitglied kann nur werden, wer den Mythen mindestens einmal innerhalb eines Jahres hundertmal bestiegen hat. Rekordhalter ist Armin Schelbert, der sich auch „Der Mensch“ nennt. Er war am 5. Oktober 2019 zum 5000. Mal auf dem Berg. Der langjährige Gipfelwirt Albert Klein folgt mit rund 4500 und Peter Gujer aus Einsiedeln mit rund 3000 Besteigungen. Wetten, dass von ihrer Leistung auch Goethe, Hölderlin und Schiller tief beeindruckt gewesen wären?!

Text: Omar Gisler
Bilder: Helmut Wachter

Erleben

Gipfelwanderung
Der Weg auf den Grossen Mythen führt von Schwyz über das Frauenkloster St. Josef im Loo zum Mythenbad und zur Holzegg, wo der Mythen-Bergweg beginnt. Zahlreiche weitere Wandervorschläge finden sich auf: www.mythenregion.ch

Mythenfreund werden
Für einen Jahresbeitrag von zwanzig Franken können Sie Mitglied des Vereins der Mythenfreunde (www.grossermythen.ch) werden und damit einen Beitrag für den Unterhalt des Bergweges und des Gipfelhauses leisten.

Einkaufstour
Wer einen Shoppingbummel einer Bergtour vorzieht, kommt im Mythen Center Schwyz (www.mythen-center.ch) auf seine Kosten.

Buchcover Treno Gottardo Booklet

Mit dem Treno Gottardo nach Arth Goldau

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