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Wenn im Service-Zentrum Samstagern ein Traverso in die Lüfte schwebt

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Zum ersten Mal erhielt ein Fahrzeug der Traverso-Flotte neue Triebradsätze. Für die Fachspezialisten der schweren Instandhaltung eine Herausforderung: Sie lernen neue Teile und Werkzeuge kennen. Die alte Werkstatthalle der Südostbahn hat dabei auch ihre Tücken.

Scheinbar schwerelos schweben die rund 130 Tonnen in der Luft: Eine 75 Meter lange Traverso-Zughälfte wird im Service-Zentrum Samstagern angehoben, um die Radsätze der Triebdrehgestelle zu wechseln. Die Spezialisten der schweren Instandhaltung stehen wie bei einem Boxenstopp bereit, um die fast zwei Tonnen schweren gelösten Radsätze unter dem schwebenden Zug in die angrenzende Werkstatthalle wegzuschieben.

Doch dann folgen ratlose Blicke: Nach einigen Metern wegrollen ist Schluss. Die Räder stehen an den hängenden Laufdrehgestellen an, der Traverso schwebt zu tief in der Luft. Ist es möglich, den Traverso ein paar Zentimeter höher anzuheben? Das Hallendach des Servicezentrums Samstagern ist niedrig, ja eigentlich zu niedrig, um die Arbeiten an den Fahrzeugen effizient ausführen zu können. Deshalb wird in Samstagern nun ein Ausbau des Service-Zentrums geplant: Höhere Decken und eine längere Halle – damit kann künftig gleich ein ganzer 150 Meter-Zug angehoben werden (siehe Artikel «Die Südostbahn baut das Service-Zentrum Samstagern aus»).

Mit der Halle arrangieren

Doch bis es so weit ist, müssen sich die Mitarbeitenden mit der Halle aus den 1970er-Jahren arrangieren. Bei den silbernen Flirt-Fahrzeugen der 1. und 2. Generation haben die Mitarbeitenden mit der Zeit Tricks gefunden, wie sie die Drehgestelle mithilfe sogenannt verkürzter Abhebeseile und zusätzlicher Stahlwinkel noch weiter in die Luft heben können. Doch nun steht ein Traverso-Halbzug in der Halle. Das ist der erste für das Drehgestell-Team rund um George Gähwiler, den Leiter der Gruppe Mechanik & Gestaltung. Deshalb gilt die Devise heute: Nichts überstürzen.

Auch Thomas Reuteler, der Leiter der schweren Instandhaltung ist vor Ort. Er überprüft, ob die getätigten Vorbereitungsmassnahmen Wirkung zeigen und wo noch Unvorhergesehenes auftauchen könnte. Er steht in der Grube unter dem Traverso und blickt leicht skeptisch nach oben, neben dem Zug fährt George Gähwiler mit der Arbeitsbühne unters Hallendach. Wie viel Platz bleibt? Kann die Hebeanlage noch einige Zentimeter höher fahren? Unter genauster Beobachtung des Deckenträgers schieben die Hebeböcke die 130 Tonnen Millimeter für Millimeter weiter in die Höhe, bis zum Endanschlag der Hebeanlage.

Knapp, aber es reicht

Doch die wenigen Zentimeter reichen zum Glück aus, um die nötige Distanz zwischen den demontierten Triebradsätzen und den Rädern der Laufdrehgestelle zu schaffen. Endlich kann das Team die Triebradsätze wegrollen und für die externe Aufarbeitung vorbereiten.

Der Teufel liegt im Detail

Die Mitarbeitenden der schweren Instandhaltung revidieren die Drehgestelle – diese umfassen nebst den Radsätzen etwa auch die Federungen und Bremssysteme – regelmässig. Dazwischen profilieren SOB-Mitarbeitende in Herisau alle Radsätze auf der Unterflurdrehbank frisch. Beim Flirt 1 und 2 werden die Triebdrehgestelle nach einer Million Kilometer und die Laufdrehgestelle nach eineinhalb Millionen Kilometer ausgebaut, komplett zerlegt und revidiert.

Beim Flirt 3 und dem Traverso folgt die komplette Zerlegung dank Weiterentwicklung und Betriebserfahrung bei den Triebdrehgestellen erst nach zwei Millionen und bei den Laufdrehgestellen erst nach drei Millionen Kilometern. Die Konstruktion der Drehgestelle lässt im Gegensatz zum Flirt 1 und 2 einen Triebradsatzwechsel, der ebenfalls nach einer Million Kilometer nötig wird, ohne eine Komplettzerlegung zu.

Zu Beginn eines Radsatz- oder Drehgestellwechsels richten die Mitarbeitenden der Instandhaltung die Abhebeanlage ein. Nach Einfahrt des Zuges platzieren sie die Hebepratzen an den vorpositionierten Hebeböcken. Die Pratzen stossen später den Zug nach oben.

Symbole markieren aussen am Traverso den genauen Auflagepunkt für die Hebepratzen, nur hier kann der Zug in die Lüfte gehievt werden. Auch diese Vorbereitungsarbeiten sind im Service-Zentrum Samstagern aufgrund der gegenwärtigen Ausstattung herausfordernd: Die Mitarbeitenden fahren die bis 130 Kilogramm schweren Pratzen mit einem Hubwagen durch die enge Halle, die Positionierung erfordert Feingefühl. Und weil «vorne» und «hinten» am Zug für jeden etwas anderes ist, orientiert sich das Team mit den beiden Nachbarortschaften von Samstagern als Codewörter «Wädenswil» und «Schindellegi» zur optimalen Positionierung des Hubwagens. 

Feine Sensorkabel entlang der massiven Gerätschaften sorgen dafür, dass sich die Stützen gleichmässig heben – ein schräg in der Luft stehender Zug wäre eine Gefahr. Mit dem Teilausbau des Service-Zentrums ist auch eine neue Unterflur-Abhebeanlage geplant. Diese ermöglicht einen deutlich effizienteren Betrieb. Mitarbeitende müssen die Pratzen dereinst nicht mehr einzeln montieren, sondern sie sind bequem aus dem Untergrund ausfahrbar. Wird die Unterflur-Abhebeanlage nicht gebraucht, kann der Fahrzeug-Standplatz auch für andere Arbeiten genutzt werden.

Kontrolle ist alles

Heute arbeitet ein eingespieltes Team von drei Spezialisten der schweren Instandhaltung unter dem Zug. Einer von ihnen ist Roland Fuchs: «Wir arbeiten synchronisiert.» Die jahrelange Erfahrung – Fuchs ist seit 33 Jahren bei der SOB – hilft, den nächsten Arbeitsschritt vorherzusehen und die Kollegen dabei zu unterstützen. Aber: «Der erste Traverso ist dennoch speziell: Es gibt neue Befestigungen und neue Werkzeuge. Das müssen wir erst kennenlernen.» 

Während manche Arbeitsschritte Feingefühl am Werkzeug erfordern, ist andernorts Kraft gefragt. Kein Wunder, dass bei dieser Arbeit auch mal eine eben gelöste, schwere Schraube zu Boden fällt. Risiko ist das allerdings keines, denn mit neuen Radsätzen werden aus Sicherheitsgründen an sämtlichen Anbauteilen auch neue Schrauben montiert. Beim letzten Arbeitsschritt senkt das Team den Traverso wieder langsam auf die neuen Radsätze ab und verbinden diese mit dem Fahrzeug. «Wir kontrollieren nach dem Vier-Augen-Prinzip bei allen Schrauben das Drehmoment und unterschreiben ein Kontrollblatt», erzählt Fuchs und fügt sogleich an: «Ich fahre immer mit dem Zug nach Hause und sitze im Wagen, an dem ich gearbeitet habe. Das kann ich mit ruhigem Gewissen machen.»

Text: Conradin Knabenhans
Fotos: Manuela Matt
Video: Jeannine Fisch

Einblick ins Service-Zentrum Samstagern

Am Samstag und Sonntag, 22. und 23. Oktober 2022, hat die Bevölkerung die Möglichkeit, das Service-Zentrum Samstagern an Tagen der offenen Tore zu besichtigen und Einblick in die tägliche Arbeit der Mitarbeitenden am Standort zu erhalten. Zudem können die Pläne für den Teilausbau und SOB-Züge besichtigt werden. Der Anlass findet im Rahmen des Jubiläumswochenende «175 Jahre Schweizer Bahnen» statt. Der Besuch ist kostenlos. Weitere Informationen: www.sob.ch/175 

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