Orientierungslos am Bahnhof, überfordert von Lärm und Hindernissen: In der Zweitausbildung Kundenbegleitung der Südostbahn schärft ein Kurs das Bewusstsein für die Bedürfnisse von Menschen mit Beeinträchtigungen. Dieser Perspektivenwechsel soll im Berufsalltag helfen, die Reise mit dem öffentlichen Verkehr für alle besser zu machen.
«Das geht nicht! Ohne Brille bin ich blind!» Die Empörung der angehenden SOB-Kundenbegleiterin Luana Zangger kommt wie aus der Pistole geschossen. Kurz zuvor hatte Procap-Kursmoderator Sascha Feldmann sie aufgefordert, ihre Brille für einen Spaziergang im Klassenzimmer zu lassen. Einen Moment später kann sie mit Feldmann und ihren beiden Teammitgliedern Michaela Stübi und Alex Oberholzer über ihren reflexartigen Ausspruch herzhaft lachen. Was für ein Gedanke ihr hier durch den Kopf geschossen ist: Genau darum geht es heute – zu erfahren, was es heisst, mit einer Seh-, Hör- oder Mobilitätsbeeinträchtigung zu leben und sich im öffentlichen Verkehr zu bewegen. Kursmoderator Sascha Feldmann engagiert sich bei Procap Schweiz und ist selbst krankheitsbedingt kurz vor seiner Lehrabschlussprüfung erblindet. Procap ist der grösste Mitgliederverband von und für Menschen mit Beeinträchtigungen in der Schweiz.
Blindes Vertrauen notwendig
Sascha nimmt seine sehenden Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer wortwörtlich an der Hand, wenn sie mit sichteinschränkenden Brillen versuchen, sich durch den Hauptbahnhof Zürich zu navigieren. Was für die SOB-Kundenbegleiterinnen und -begleiter eigentlich bestens vertraute Umgebung ist, wird zum Hindernisparcours – und dafür braucht es noch nicht einmal die zahlreichen Koffer und Velos, die da und dort die Leitlinien für Blinde versperren. Treppenlaufen geht nur in kleinsten Schritten, das richtige Gleis zu finden mit Tastsinn. «Ich habe komplett die Orientierung verloren», sagt Michaela Stübi. «Ich hatte keine Ahnung, in welchen Wagen des Traverso ich eingestiegen bin.» Das passiert ihr sonst nie, denn jeder Traverso-Wageneingang unterscheidet sich von der Raumaufteilung leicht von den anderen – Orientierung ist für sie als Sehende ein Kinderspiel. Sascha Feldmann helfen andere Orientierungspunkte: Bei den Treppenstufen sind die Gleisnummern und Sektoren graviert und in Brailleschrift am Geländer angebracht, akustische Durchsagen informieren über die nächsten Abfahrten der Züge, das Piepsen der Türen lotst ihn zum Eingang. Er bewegt sich mit einer Selbstverständlichkeit – und viel Humor – durch den Bahnhof, die den Teilnehmenden zutiefst imponiert.
Regula Bersinger, ebenfalls Kursmoderatorin bei Procap, lässt die Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer in einen unverständlichen Ozean von Rauschen und Lärm eintauchen. Sie selbst ist auf eine Hörprothese, ein Cochlea-Implantat, angewiesen. Damit werden für sie zwar auch Gespräche wieder wahrnehmbar, aber eben auch die Hintergrundgeräusche. Mit Gehörschutz und Testhörgerät macht sich die Gruppe an den Hauptbahnhof Zürich auf: Michaela verzieht das Gesicht. Ein Traverso fährt gerade aus dem Tessin ein, aus dem normalen Bremsgeräusch wird mit dem Testhörgerät eine heftige Akustikwelle: «Das wird mir viel zu laut, der fährt ja auf mich auf …», sagt sie. Damit Hörbeeinträchtigte die Kundenbegleiterin gut verstehen, beherzigt sie die Tipps von Regula Bersinger: Deutlich sprechen, einfache Sätze und das Gesicht gut beleuchten – das alles hilft beim Lippenlesen. «Und ich werde vermehrt darauf achten, dass auch unsere Informationsbildschirme immer funktionieren», sagt Michaela.
Es braucht nach wie vor Planung
Mit der SBB-App sucht Ruedi vor der Reise die rollstuhlgängige Verbindung und den passenden Wagen heraus. Das Behindertengleichstellungsgesetz (siehe Box oben) hat vieles erleichtert, auch wenn es im öV noch Nachholbedarf gibt – nicht alle Bahnhöfe und Züge sind ebenerdig zugänglich und Reisen braucht nach wie vor Planung. Gerade beim Umsteigen kann das Finden des Rollstuhlabteils eine zeitliche Herausforderung sein. Ruedi fährt den Rollstuhl gekonnt in den Traverso, während die Kundenbegleiterinnen und Kundenbegleiter bei dieser Übung durch die minimalen – und aufgrund des Schotteruntergrunds der Gleise nicht vermeidbaren – Höhenunterschiede zwischen Perronkante und Schiebetritt ins Schwitzen geraten. Dank etwas Hilfe gelingt es schliesslich, und die kurze Testfahrt nach Altstetten kann losgehen: «Ich sitze, wenn möglich, entgegen der Fahrtrichtung und an einer Wand, bestenfalls mit Rückhaltevorrichtung, damit ich bei starker Bremsverzögerung nicht ins Rutschen komme», sagt Ruedi. Währenddessen fühlen sich die Kundenbegleiterinnen und -begleiter im Testrollstuhl nicht wohl: «Ich fühle mich wie ein Seemann», sagt jemand – die Bewegungen des Zuges sind ganz anders wahrnehmbar als sonst. Es sind genau diese Erkenntnisse und kleinen Aha-Erlebnisse, die nach den Kurstagen in Erinnerung bleiben: Damit die Bedürfnisse aller Menschen sichtbar werden.
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Text und Fotos: Conradin Knabenhans
Video: Procap