Jedes Flirt-Fahrzeug der Südostbahn erzählt seine eigene Geschichte von Schäden und Verschleiss. In Bellinzona sorgt ein erfahrenes Team dafür, dass die Züge für ihre zweite Lebenshälfte gerüstet sind. Von der Diagnose bis zur Umsetzung der Reparaturen sind Konzentration und Präzision gefragt.
Diagnose: Beule am Kopf. Nein, das ist kein Arztbericht, sondern das Ergebnis einer Schadensaufnahme am SOB-Flirt 047 «Rossberg». Die Diagnose gestellt haben die Fachleute des SBB Werks Bellinzona. Hier werden die SOB-S-Bahn-Fahrzeuge der ersten Generation nach rund 17 Jahren im Einsatz fit gemacht für ihre zweite Lebenshälfte. Der Flirt 047 hat knapp 3 Millionen Kilometer hinter sich. In Bellinzona auf Visite sind heute François Cosandey und Thomas Schäfer von der Südostbahn. Die beiden Projektleiter gehen auf Arbeitsbesuch im SBB Werk, um den Fortschritt der Arbeiten zu überprüfen und nötigenfalls korrigierend einzugreifen. Offiziell formuliert: Baubegleitung und Qualitätssicherung. Die SOB hat die Arbeiten an den Fahrzeugen ausgeschrieben und an die SBB vergeben. Als Auftraggeber entgeht den beiden nicht das kleinste Detail.
Aus Holz wird Schaum
An der Dachfront des Flirts ist die Wölbung, also die «Beule», deutlich zu sehen. Sie kommt von einer feuchten Stelle unter der Führerkabine. «Unter der Oberfläche verbirgt sich eine Holzfaserplatte, wie man sie von Möbeln kennt», erklärt François, der im Projekt für die technischen Aspekte zuständig ist. «Die Holzplatte dient der Stabilität der Fahrzeugfront – denn die Führerkabine selbst ist aus glasfaserverstärktem Kunststoff gebaut und entsprechend weicher.» Als 2007 die Flirt-Fahrzeuge von Stadler Rail gebaut wurden, gab es für diese spezifische, tragende Unterkonstruktion kaum anderes Material als Holz. «Gelangt Feuchtigkeit an das Holz, quillt dieses mit der Zeit auf und sorgt für die Beule an der Kabine», erklärt François weiter. Wenig erstaunlich deshalb, dass der Projektleiter auch einen Riss an der Oberfläche findet – hier muss das Wasser eingedrungen sein. Im Rahmen der Revisionsarbeiten wird das Holz nun entfernt. Ist dieser Schritt abgeschlossen, wird die Unterkonstruktion mit einem festen Schaum aufgefüllt. «Das ist wie beim Zahnarzt», sagt François. Dieses Material hat den Werkstoff Holz abgelöst und bietet den Vorteil, dass es über die Zeit nicht mehr aufquillt. Das Problem mit der Feuchtigkeit dürfte damit gelöst sein.
Wo ist das Wasser eingedrungen? Die Spezialisten der SOB und der SBB gehen auf Spurensuche.
Umfangreiche Arbeiten
Die «Beule am Kopf» ist nur eine von vielen altersbedingten Wehwehchen am Flirt «Rossberg» (siehe weisse Box). Kein Wunder: Die Fahrzeuge legen jährlich Hunderttausende Kilometer zurück und brauchen deshalb nebst dem periodischen Unterhalt in den Service-Zentren der SOB auch einmal eine intensivere Pflege. Die SBB saniert oder erneuert unter anderem auch Elemente an Lampenabdeckungen, Luftkanälen, Heizkörpern oder Einstiegstürantrieben. Im Führerstand sorgen Erneuerungen dafür, dass sich für das Lokpersonal störende Windgeräusche während der Fahrt deutlich reduzieren. Im Fahrgastraum werden zudem die Sitzbezüge erneuert. All das ist nur eine kleine Auswahl der vielfältigen Arbeiten.
Der alte Bodenbelag wird im Rahmen der Arbeiten ersetzt.
Teilprojekte der Revisionsarbeiten
Die Revisionsarbeiten an den Flirt-Fahrzeugen der ersten Generation setzt die SOB in drei Teilprojekten um. Der Fokus richtet sich dabei auf den Werterhalt. Die Systeme für die Fahrgastinformation, Kameraüberwachung und Fahrgastzählung sowie die zugehörigen übergeordneten Systeme – APFZ genannt – wurden in einem ersten Schritt von Stadler Rail in Frauenfeld vollständig ersetzt. In ihren Service-Zentren selbst durchgeführt hat die SOB Arbeiten rund um die Klimaanlage, die Komponenten von Transformatoren oder die Erneuerung der Vakuumeinheiten der Toiletten. Das dritte Teilprojekt ist die externe Revision in Bellinzona, bei der schrittweise in den nächsten zwei Jahren alle elf Flirt-1-Fahrzeuge revidiert werden. Für alle Revisionsarbeiten der ersten Serie rechnet die Südostbahn mit Kosten von rund 19 Millionen Franken.
Rollen klar verteilt
Bei Thomas Schäfer laufen die Fäden des Projekts aus kommerzieller Sicht zusammen. Zwar arbeiten die SBB und die SOB oft partnerschaftlich zusammen, hier im Refit-Projekt sind die Rollen klar verteilt: Die SOB ist Auftraggeberin, die SBB ist Anbieterin eines Angebots. Sie hat sich in einer öffentlichen Ausschreibung gegen andere Firmen durchgesetzt, die die Arbeiten ebenfalls durchführen wollten. «Die Ausschreibung hat den Kostenrahmen definiert», sagt Thomas. Aber es lässt sich nicht vermeiden, dass im Rahmen solcher Revisionsarbeiten einzelne Punkte angepasst werden müssen. Manche Schäden lassen sich einfacher und schneller abarbeiten als erwartet, bei anderen ist mehr Geduld und Zeit gefragt, weil unerwartet neue defekte Stellen auftauchen oder angepasste Konstruktionen erforderlich sind. Sobald das Fahrzeug in Bellinzona eingetroffen ist, wird eine Schadensaufnahme durchgeführt, die danach von der Südostbahn bestätigt und für die Arbeiten freigegeben wird. «Jedes Fahrzeug ist eine Wundertüte, weil keinem dasselbe widerfahren ist», sagt François. Die sichtbarsten Geschichten erzählt der Fahrzeuglack: Ein Steinschlag sorgt für kleine Dellen, eine Streifkollision – etwa mit einem Auto – für eine lange Schramme und die Anwendung von intensiv reinigenden Putzmitteln wie Graffiti-Entfernern hinterlässt punktuell streifenförmige Flecken. «Zebra» nennt François das. In all diesen Fällen wird der Untergrund abgeschliffen, neu verspachtelt und dann lackiert – so wenig wie möglich, so viel wie nötig, lautet der Grundsatz bei den Arbeiten. Im Fahrzeuginnern kommen versteckte Schäden zum Vorschein: Alle Sitze und die darunterliegenden Sitzkisten werden ausgebaut, der Bodenbelag wird ebenfalls entfernt und ersetzt.
Neues Fahrzeug, neue Herausforderungen
Beim Flirt 047, dem zweiten Fahrzeug in der Tessiner Revision, taucht dabei ein anderes Problem auf: Bei den Wagenübergängen sind die Seitenbleche entlang des Fussbodens gerostet. François geht mit Simone Barin, dem technischen Projektleiter der SBB, auf Spurensuche. Mit der Taschenlampe ist das Rätsel nach einiger Zeit gelöst: Im darüberliegenden Holzboden wurden, mutmasslich bei der Herstellung des Zuges, zwei kleine Löcher gebohrt. Warum, das lässt sich nach 17 Jahren nicht mehr eruieren, doch die Folgen sind deutlich sichtbar: Durch die Löcher muss, wohl während der täglich durchgeführten Reinigungsarbeiten, jahrelang Wasser auf das Blech getropft sein. Das rostige Blech wird deshalb ausgebaut und ausgetauscht. Die Löchlein müssen verschlossen werden, damit die Probleme künftig nicht mehr auftreten. Hier wird das Projektteam bei den weiteren Fahrzeugen genau draufschauen: ein Einzelfall oder ein wiederkehrendes Problem? Die Erfahrungen sollen helfen, die weiteren Refit-Arbeiten der SOB-Flotte genauer zu planen. Sind die Arbeiten bei der ersten Flirt-Generation abgeschlossen, folgt die zweite Generation. «Wir überprüfen die Umsetzung jeder Projektanforderung, um die Qualität der ausgeführten Arbeiten sicherzustellen», sagt Thomas. Da und dort sind aber auch in Zukunft Kompromisse nötig, finanzieller und technischer Natur. Derzeit läuft für die zweite Flirt-Generation ein Vorprojekt, um den Umfang der notwendigen Arbeiten zu bestimmen.
Wurde der Lack gut repariert? François Cosandey (links) und Thomas Schäfer überprüfen die Arbeiten in Bellinzona.
Arbeiten für zehn Wochen geplant
Rund zehn Wochen ist ein SOB-Flirt in Bellinzona. Diese Zeitspanne ist auch dem aufwendigen Arbeitsprogramm geschuldet, denn in Bellinzona wird der vierteilige Flirt das erste und einzige Mal seiner Lebensdauer getrennt. Normalerweise sind die einzelnen Wagen fest miteinander verbunden, nun stehen die Wagen einzeln im Werk. Die Kugelgelenke werden ausgetauscht. Über die Jahre sind die Gummi-Metall-Teile im Innern brüchig geworden. Die normalerweise unsichtbaren, aber mit über 40 Kilogramm ziemlich wuchtigen Teile neu einzubauen, ist millimetergenaue Präzisionsarbeit. Das SBB-Team Bellinzona hat in diesem Bereich grosse Erfahrung: Im gleichen Werk wird auch die Flirt-Flotte der SBB aus der ganzen Schweiz erneuert. «80 Prozent der Arbeiten sind gleich», sagt Simone Barin. Unterschiede gibt es, weil gewisse Komponenten – wie etwa die Schiebetritte – von der Südostbahn bereits selbst revidiert oder beim Bau vom Hersteller über die Jahre unterschiedliche Materialien verwendet wurden. Für die Fachspezialisten von der SBB und der SOB ist das kein Problem, sie haben sich bereits an das lebensgrosse Fahrzeugpuzzle Flirt gewöhnt. Und taucht doch etwas Unerwartetes auf: Detektivarbeit können sie.
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