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Am Bahnhof und im Zug: Wenige Zentimeter entscheiden

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Ab dem 1. Januar 2024 müssen die Bahnhöfe, Bushaltestellen und Fahrzeuge im öffentlichen Verkehr die Vorgaben des Behindertengleichstellungsgesetzes erfüllen. Die Südostbahn arbeitet intensiv an der Umsetzung – ein komplexes Unterfangen, bei dem es oft nur noch um einzelne Zentimeter geht.

Erreiche ich meinen Anschluss? Ist mein angestammter Sitzplatz noch frei? Das sind Fragen, die sich die meisten Zugreisenden regelmässig stellen. Das Ein- und Aussteigen hingegen gehört zur Fahrt einfach dazu, ist meist nicht der Rede wert. Für Reisende im Rollstuhl oder blinde Menschen kann Reisen jedoch zur Herausforderung werden. Stufen sind kaum zu überwinden, Informationsbildschirme nutzlos, wenn man sie nicht sehen kann.

Eigentlich gehört Stefanie Steiner zu den Fahrgästen, die sich wenig Gedanken ums Ein- und Aussteigen machen müssen. Die 31-Jährige ist sportlich, wandert gerne und nimmt nicht nur dort jedes Hindernis mit links. Als Leiterin Netzentwicklung hat sie auch das Gespür für Menschen mit eingeschränkter Mobilität: «Die Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes bei der SOB hat meinen Horizont erweitert: Mir fällt inzwischen mehr auf, wie schwierig es für Menschen mit Rollstuhl oder Rollator ist, im täglichen Leben autonom unterwegs zu sein.» Das BehiG, wie es gerne abgekürzt wird, trat Anfang 2004 in Kraft und soll Rahmenbedingungen schaffen, «welche die Unabhängigkeit Behinderter von der Hilfe durch Drittpersonen erlauben und damit vom Gefühl befreien, von andern Personen abhängig zu sein». So formulierte es der Bundesrat in der Botschaft zum Gesetz. 20 Jahre hatten Betriebe des öffentlichen Verkehrs (öV) Zeit, Bauten und Anlagen sowie Fahrzeuge behindertengerecht anzupassen.

Dieses Ziel wird die öV-Branche bei Bahnhöfen beziehungsweise werden Kantone und Gemeinden bei Bushaltestellen schweizweit verpassen. Stefanie Steiner, seit 2017 bei der SOB für die Thematik zuständig, differenziert: «Der Fokus richtete sich lange auf die Perronhöhen, die ebenerdiges Ein- und Aussteigen in die Züge erlauben.» Über die Jahre sei das Bewusstsein für die vielen Details gewachsen, die man beim behindertengerechten Bauen ebenfalls noch berücksichtigen muss: «Das hat auch dazu geführt, dass die Anforderungen von den Aufsichtsbehörden verschärft wurden.» Für Infrastrukturbetreiber wie die SOB hiess das etwa: Bahnhöfe nochmals überprüfen, die bereits Jahre zuvor gesetzeskonform umgebaut wurden.

Planen, bauen, überprüfen

Die meisten SOB-Bahnhöfe und -Haltestellen sind heute behindertengerecht umgebaut. «Wir standen regelmässig im Dialog mit dem Bundesamt für Verkehr und den Behindertenverbänden, um die Projekte so weit wie möglich optimieren zu können», betont die Leiterin Netzentwicklung. Dazu gehören auch kleine Anpassungen wie Schriftgrössen auf den Informationsmonitoren oder die Lautstärke von akustischen Informationsstelen für seh- und hörbeeinträchtigte Fahrgäste. An allen Bahnhöfen und Haltestellen der SOB ist heute der Zustieg in die Züge vom Perron aus stufenfrei möglich. Mancherorts fehlen aber beim Zugang zum Perron nur wenige Zentimeter, dass auch dort die gesetzlichen Vorgaben erfüllt werden: In Herisau gibt es beispielsweise zwar heute schon Liftanlagen, diese sind jedoch etwas zu klein, als dass Rollstuhlmodelle mit einem Antriebsmotor vor dem Rollstuhlsitz Platz hätten.

Die Lage des Bahnhofs entscheidet viel

Manchmal geht es nicht nur um einen Lift, manchmal ist wortwörtlich die ganze Lage verzwickt. Ein solcher Fall ist der Bahnhof in Degersheim. Als Anfang des 20. Jahrhunderts die damalige Bodensee-Toggenburg-Bahn gebaut wurde, planten die Ingenieure den Bahnhof in eine landschaftliche Sohle des hügligen Dorfes. Das führte dazu, dass der Bahnhof in einer Kurve zu liegen kam. Da damals das Einsteigen in den Zug eher mit einem Reinklettern vergleichbar war, lösten Lücken oder Spalten beim Einstieg ohnehin kein Kopfzerbrechen aus.

Heute ist das anders: Bahnhöfe in Kurvenlagen sind für das ebenerdige Ein- und Aussteigen eine Herausforderung. Denn in Kurven sind die Gleise heute auf der einen Seite leicht erhöht. «Dies ermöglicht den Zügen, mit hoher Geschwindigkeit durch die Kurven zu fahren, ohne den Komfort der Fahrgäste zu beeinträchtigen», sagt Stefanie. Liegt ein Perron in einer Kurve mit einer solchen Überhöhung, entsteht zwischen Tür und Perronkante ein Spalt, teilweise mit Höhenunterschied. Dieser Spalt erschwert das Ein- und Aussteigen aus dem Zug. Deswegen ist die Spaltbreite und damit die maximale Überhöhung gesetzlich limitiert.

Nicht verhältnismässiger Umbau

Zahlreiche Bahnhöfe im Schweizer Schienennetz sind, in der Regel an Perronenden, von solchen Gleisüberhöhungen betroffen. Jeder Perron wird bei der SOB von Anfang bis Ende auf die Einhaltung der Vorgaben kontrolliert. An den meisten Orten ist ein selbstständiger Zustieg aber trotzdem möglich, weil in den Mittelbereichen der Perrons die Überhöhung meist im Normbereich liegt oder die Maximalmasse nur gering überschritten werden. Das ist auch in Degersheim der Fall, hier sind die Rampen zu den Perrons gemäss den BehiG-Normen zu
steil.

Es ist unmöglich, dies mit kleinen Massnahmen zu lösen: «Den Bahnhof allein aufgrund der Vorgaben des Behindertengleichstellungsgesetzes umzubauen und um mehrere Meter zu verschieben, wäre unverhältnismässig», sagt Stefanie. Der Verband öffentlicher Verkehr (VöV) hat eine schweizweit einheitliche Planungshilfe mit Berechnungstool erarbeitet, um Kosten-Nutzen-Entscheide mit Blick auf Fahrgastfrequenzen, Investitionen und verbleibende Lebensdauer der Anlagen einfacher und vor allem einheitlich fällen zu können. Die Umsetzung ist ein ständiges Spannungsfeld, um gesetzliche Vorgaben, Finanzierungen über den Bahninfrastrukturfonds des Bundes und den Komfort für alle Reisenden sicherzustellen. Die SOB baut den Bahnhof Degersheim behindertengerecht um, wenn in den kommenden Jahren die Bahninfrastruktur sowieso aufgrund des sogenannten Substanzerhalts erneuert werden muss. Bis dahin verlangen die Behörden Ersatzmassnahmen: Diese Hilfestellung durch Personal sorgt dafür, dass die Reisenden künftig auch in Degersheim Hilfe erhalten, wenn sie diese benötigen und voranmelden. Ist ein Bahnhof gar nicht rollstuhlgängig, muss eine Shuttle-Lösung auf der Strasse ab dem nächstgelegenen gesetzeskonformen Bahnhof erfolgen.

Die gesamte Reisekette muss funktionieren

Stefanie Steiner setzt sich dafür ein, dass Ersatz- und Überbrückungsmassnahmen reibungslos funktionieren. Sie leitet im Rahmen ihrer Tätigkeit bei der SOB auch die entsprechende Arbeitsgruppe beim VöV: «Wir dürfen uns zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausschliesslich auf die Umbauarbeiten fokussieren.» Die Leiterin Netzentwicklung hat deshalb genau im Blick, was alles zu tun ist, damit alle Fahrgäste selbstständig an ihr Ziel kommen. Das beginnt etwa bei den Daten: «Bei sämtlichen Bahnhöfen und Haltestellen muss in einer Datenbank erfasst werden, ob sie komplett autonom benutzbar sind oder wie die Hilfestellungen beziehungsweise die Ersatz- oder Überbrückungsmassnahmen aussehen.» Diese Daten werden künftig mit dem Fahrplan verknüpft, sodass Reisende ihre Transportkette überprüfen können und wissen, wo sie im Zug einsteigen müssen, um ihr Ziel sicher und einfach zu erreichen. Das heute schon bestehende Callcenter Handicap der SBB übernimmt dann Anfragen von Reisenden, falls Hilfe benötigt wird. Die Voranmeldung der Reisenden muss bei Hilfestellung durch Personal mindestens eine und bei Ersatztransporten auf der Strasse (Shuttle) zwei Stunden vor der Reise geschehen.

Die öV-Branche arbeitet eng zusammen, um am 1. Januar 2024 bereit zu sein. «Das System muss für die gesamte Reisekette im öV funktionieren, unabhängig von der jeweiligen Infrastrukturbetreiberin oder dem gewählten Verkehrsmittel», betont die 31-Jährige, die Betriebswirtschaftslehre mit Vertiefung in Mobilität und Tourismus studiert hat. Keine einfache Angelegenheit bei schweizweit über 250 Transportunternehmen. Stefanie Steiner begleitet das Dossier seit ihrer Tätigkeit in der Netzentwicklung.

Die Arbeit geht weiter

Ist die Arbeit für Stefanie Steiner am 1. Januar 2024 abgeschlossen? «Es wird sicher noch Optimierungspotenzial rund um die Reiseplanungen geben.» Zudem schreitet der Umbau der letzten noch nicht BehiG-konformen Bahnhöfe und Haltestellen voran. «Von den Umbauten profitieren alle Reisenden – gerade auch, wenn sie etwa mit Gepäck oder Kinderwagen unterwegs sind.»

Übersicht der SOB-Bahnhöfe und Haltestellen: www.sob.ch/behig

Text: Conradin Knabenhans
Bilder: Thomas Lutz

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