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Die Züge müssen warten: An der «Tour de Suisse» haben die Velos freie Fahrt

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Normalerweise ist der Fall klar: Am Bahnübergang schliessen sich die Barrieren, die Züge haben Vorfahrt. Für die «Tour de Suisse» gibt es eine Ausnahme. Hier bestimmen die Radrennfahrer, wann ein Zug fahren kann. Für die Bahnen, darunter die Südostbahn, ist das eine Herausforderung.

Über 190 Kilometer führt die vierte Etappe der Tour de Suisse in diesem Jahr. Die Radsportprofis sind von Grenchen nach Brunnen unterwegs und kämpfen um den Tagessieg vom 15. Juni 2022. Was die Velofahrer im Kampf um den zweiten Bergpreis des Tages im Sattel wohl nicht bemerken: Auf ihrer Etappe queren sie gleich drei Bahnübergänge der Südostbahn.

Damit das Rennen nicht verfälscht wird, haben die Radprofis auch über die Bahnübergänge freie Fahrt. Der Zugverkehr muss warten. Dafür verantwortlich ist Hans-Ulrich Schaufelberger, Fachspezialist Betrieb bei der Südostbahn. Schaufelberger wird schon Wochen im Voraus von der Tour de Suisse über die Etappenplanung ins Bild gesetzt. Er überprüft mithilfe der angepeilten Durchgangszeiten, welche Züge betroffen sein könnten und informiert die zuständigen Stellen der SOB: Von der Betriebszentrale bis zum Personalplaner des Lokpersonals. Und: «Für jeden einzelnen Bahnübergang biete ich Helfer der Betriebsintervention auf, die mit der Betriebszentrale in Verbindung stehen.»

Die SOB-Mitarbeitenden vor Ort entscheiden, wann der Bahnbetrieb für die Überquerung des Bahnübergangs durch die Radrennfahrer gestoppt werden muss. Helfer zu finden, das sei nie ein Problem, sagt Schaufelberger. Nicht nur der Abwechslung und der interessanten Aufgabe wegen, sondern wohl auch, weil eine Stunde vor der Tour die Werbekolonne mit allerlei Give-Aways vorbeifährt und die Velofahrer ankündigt.

Ein Koordinator für alle öV-Betriebe

Im Austausch sind die Verantwortlichen an den einzelnen Bahnübergängen mit Patrick Knöpfel. Er ist der «Bahnübergangskoordinator» der Tour de Suisse und steht mit allen öV-Unternehmen schweizweit in Kontakt, die von einer Tour-Etappe betroffen sind – vom Bahnbetrieb, über Trambetreiber bis zum lokalen Busunternehmen. Knöpfel beginnt mit seiner Arbeit jeweils bereits im November, rund zwanzig Übergänge sind jährlich von der Tour betroffen.

Knöpfel trifft im Begleitfahrzeug jeweils einige Minuten vor den Rennfahrern an den Übergängen ein. «Ich informiere dann, wie das Fahrerfeld im Zeitplan ist.» Trotz Marschtabelle mit unterschiedlichen Fahrgeschwindigkeiten kann das Rennen je nach Ausgangslage deutlich schneller oder langsamer verlaufen.» Knöpfel, seit 20 Jahren in dieser Funktion tätig, weiss um das Privileg, dass der Bahnverkehr für die Tour stoppt: «Am liebsten wäre es uns, das Feld würde kompakt zusammenbleiben – so wären die Bahnübergänge am schnellsten gemeistert.» Doch das ist nicht immer so. Ist das Feld verzettelt in einzelne Grüppchen unterwegs, stoppt der Bahnverkehr unter Umständen ziemlich lange.

Barrieren dürfen Rennverlauf nicht beeinflussen

«Bei uns hat die Koordination immer gut funktioniert», sagt Schaufelberger, der ebenfalls seit vielen Jahren für das Thema zuständig ist. Aber was, wenn doch einmal etwas schieflaufen würde und eine Barriere nach der Spitzengruppe schliesst und das Feld ausbremst? «Bei der Spitzengruppe fährt immer ein Renncommissair mit, der gemeinsam mit der Jury das weitere Vorgehen entscheiden könnte.» In solchen, sehr seltenen Fällen, könne die Spitzengruppe gebremst oder im Extremfall sogar angehalten werden. Dann würde etwa die Zeit der geschlossenen Barriere gestoppt, so dass die Ausgangslage möglichst gleichbleibt.

Absolut tabu ist, dass Radrennfahrer eine geschlossene Barriere überwinden und einfach weiterfahren würden, wie das in den Anfängen des Profiradsportes oder bei Rundfahrten im Ausland hin und wieder vorgekommen ist. «Für die Fahrer hätte das den sofortigen Tourausschluss und eine Busse zur Folge.»

Auch der Begleittross hat Vorfahrt

Eine durchschnittliche Überfahrt über einen Bahnübergang dauert laut Schaufelberger rund 10 Minuten. Denn nach den Radrennfahrern folgt ein ganzer Tross von Begleitfahrzeugen. Kurz davor den Zug durchfahren zu lassen, sei keine Option: «Hat ein Fahrer etwa eine Panne, muss das Begleitfahrzeug sofort aushelfen können, um den Rennverlauf nicht zu verfälschen.»

Hans-Ulrich Schaufelberger selbst steht in diesem Jahr auch an einem Bahnübergang im Einsatz. Er wird am Übergang Radschuh zwischen Sattel-Aegeri und Steinerberg auf die Ankunft der Radfahrer warten. Die Sicherheit an Bahnübergängen während Anlässen zu gewährleisten ist er sich gewohnt: Er übernimmt die Aufgabe nämlich nicht nur an der Tour de Suisse, sondern auch am Fasnachtsumzug in Wilen bei Wollerau. Mit einem Unterschied: Die Narren haben in Sachen Bahnbetrieb keine Privilegien. Sie müssen an der Barriere warten.

Text: Conradin Knabenhans
Fotos: Tour de Suisse (Sam Buchli)/Conradin Knabenhans

Tour de Suisse: Voraussichtlich betroffene Züge

Am Mittwoch, 15. Juni sind aufgrund der Rennplanung zwischen Sattel-Aegeri und Arth-Goldau folgende SOB-Züge von möglichen Verspätungen betroffen:

Voralpen-Express 2026: St. Gallen ab 15.05

Voralpen-Express 2023: Luzern ab 16:39

S31 16860: Biberbrugg ab 16:38

S31 16865: Arth-Goldau ab 16:54

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